Opernhappening „VOICE:over 3 – La Voix humaine“

Opernhappening „VOICE:over 3 – La Voix humaine“

Inga Levant Die Eroberung von Mexiko, 2012 Staatstheater Saarbrücken Foto: Bjoern Hickmann

Programmreihe VOICE:over widmet sich zwei Jahre lang dem Phänomen der Stimme

Mit spartenübergreifenden Ausstellungsprojekten, Performances, einer Operninstallation und einem vielfältigen Diskursprogramm präsentiert die Programmreihe VOICE:over in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten mannigfaltige Phänomene der Stimme. VOICE:over erforscht die sich verändernde Beziehung zwischen menschlichem Körper und Stimme sowie ihre technisch-digitale Reproduzierbarkeit in unserem Zeitalter.

Projekt 3 | 11./13./14. August 2022

Opernhappening: La Voix humaine

La Voix humaine ist eine Mono-Oper des französischen Komponisten Francis Poulenc, komponiert nach einem 1930 erschienenen Theaterstück von Jean Cocteau. Erstmals in der Opernliteratur wird hier die Entkoppelung der menschlichen Stimme vom räumlichen Bezugsystem der Singenden und Hörenden behandelt.
Allô, tu es là? Hallo, bist du da? … fragt eine weibliche Stimme und beginnt einen Mono-Dialog mit einer unsichtbaren Person, die niemals in Erscheinung tritt: ihrem ehemaligen Geliebten. Sie spricht mit ihm am Telefon – für uns die normalste Sache der Welt – fast überall.
Gehen wir zurück in die 1920/1930er-Jahre nach Paris: eine vibrierende Metropole zwischen zwei Weltkriegen, in der neben Dada, Surrealismus und Psychoanalyse ein neues technisches Gerät Einzug in die Alltagskultur der Kommunikation hält: das Telefon. In einer Zeit, als man noch an die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht gewöhnt war, begannen Menschen, allein in einen Metalltrichter zu sprechen. Eigentlich war damals eine Person, die laut und allein vor sich hinsprach, ein Mensch von Sinnen, verrückt oder zumindest suspekt.
In dieser Epoche der massiven Technologisierung, begleitet von radikalen politischen, sozialen und künstlerischen Umwälzungen, schrieb Jean Cocteau das Solo-Theaterstück La Voix humaine, das 1958 von Francis Poulenc als Mono-Oper adaptiert wurde.
Ein technisches Gerät, das Telefon, wurde zum Mitspieler, zum zweiten Akteur des Stückes. Was hören wir? Die Realität von Stimmen, den Nachklang von Worten, die Bedeutung des Gesagten, das, was wir hören wollen, das Ungesagte?
Musikalische Pausen, als Verweis auf mögliche technische Störungen oder zwischenmenschliche Stille befragen die An- oder Abwesenheit des Anderen in der Ferne am anderen Ende der Leitung. Cocteau spielt literarisch mit der realen, technischen oder mentalen An- und Abwesenheit und Poulenc rückt mit diesem Werk auch musikalisch die Ambivalenz von menschlicher Kommunikation exemplarisch in den Fokus. Darüber hinaus wird mit dieser Oper zum ersten Mal die Entkoppelung der menschlichen Stimme vom Körper und dem direkten räumlichen Bezugsystem in der Opernliteratur thematisiert.
Im Laufe des Monologs beginnt die Frau das Telefon als „schreckliche Waffe“ zu betrachten, gleichzeitig fleht sie das Objekt an und gibt ihm die Schuld für die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen. Ein Telefon wird subjektiviert und eine echolose Stimme verzweifelt an der Abwesenheit, denn die andere Seite schweigt, der Apparat bleibt stumm. Hallo, bist du da? Die Antwort bleibt aus.
Beim Opernhappening in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten greift ein Team internationaler Künstler:innen aus Oper, Kunst und Musik Cocteaus und Poulencs Themen auf, die um die Ungewissheit von Kommunikation zwischen Realität, Wahrheit, Fiktion und Fantasie kreisen. Sie zelebrieren in der rein analogen Darbietung die Ambivalenzen und die Absurditäten von Kommunikation zwischen Stimme, Körper, Bewegung und einer Installation aus verlassenen Gegenständen. Eine Sängerin, ein Pianist, ein Performer, ein bildender Künstler und Besucher:innen sind versammelt in einem Raum und bewegen sich frei, es gibt keine dominante Perspektive. Je nachdem, wo und wann sie etwas tun, was sie sehen und hören, werden sie zu Sendern und Empfängern im Zusammenspiel von Klang, Bewegung, Sprache und Raum.
Die Inszenierung greift Strategien von Dada und Surrealismus auf, koppelt scheinbar widersprüchliche Emotionen, Erinnerungen, Fantasien; spielt mit der Kombination aus fester musikalischer Struktur und der Unberechenbarkeit von performativer Aktion zwischen Akteur:innen und Besucher:innen. Die Ambivalenz des Kommunizierens, des Verstehens und des Missverstandenwerdens sowie die Einsamkeit der echolosen Stimme sind zentrale Themen des Happenings.

Performer:innen:
Sybille Fischer (Gesang), Markus Zugehör (Piano), Rafał Dziemidok (Bewegung), Dragan Matić (Szenografie)
Inga Levant (Regie und Inszenierung)
Petra Korink (Kostüme)
Kuratiert von Veronika Witte

Termine:
Do, 11. August, 19.30 Uhr
Sa, 13. August, 19.30 Uhr
So, 14. August, 18.00 Uhr
Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten, Turmstraße 75, 10551 Berlin

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesprogramms „Neustart Kultur“ der Stiftung Kunstfonds sowie der Spartenoffenen Förderung und der bezirklichen Förderfonds der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, des Klaviersalons Berlin und der Musikschule Fanny Hensel.

Inga Levant
Die Eroberung von Mexiko, 2012
Staatstheater Saarbrücken
Foto: Bjoern Hickmann

Zu den Mitwirkenden:

Rafał Dziemidok
ist Tänzer, Schauspieler und Choreograf aus Polen, er lebt in Berlin. Er tanzte bei Dada von Bzdulow (Gdańsk), Gdański Teatr Tańca, Compagnie Yvette Bozsik (Budapest). Seit 1997 arbeitet er unabhängig. Er wurde bei Choreografie-wettbewerben in Kalisz (1999 für »Departure – Arrival«) und in Warschau (2000, für »Heart of Welding Machine«) ausgezeichnet. Darüber hinaus wurde er für die erste polnische Tanzplattform ausgewählt (2002, mit »Arrow of Time«), war Stipendiat des Ministeriums für Kultur und Nationales Erbe (2007) und wurde in der Umfrage von nowytaniec.pl als bester polnischer Tänzer des Jahres nominiert (2008). Dziemidok ist Mitbegründer der künstlerischen Gruppe KONCENTRAT (seit 2005). In der Galerie Nord war er bereits 2019 und 2020 mit den Performances »Out of Season – Undancing Vivaldi« und »The Crossing« zu erleben.

Inga Levant
wurde in St. Petersburg geboren, lebte in Tel Aviv und London und heute in Berlin. Ihre Ausbildung in Klavier und Theater erhielt sie an der Universität Tel Aviv. Sie arbeitet seit 1993 als Opernregisseurin und blickt auf zahlreiche Inszenierungen in Europa sowie in Israel und Australien zurück. Der Großteil ihrer Arbeit umfasst unbekanntere oder neue Werke sowie Interpretationen des tradierten Opernkanons: »Kullervo« von Aulis Sallinen und »Die Eroberung von Mexico« von Wolfgang Rihm (Saarländisches Staatstheater Saarbrücken), »Šárka« von Zdeněk Fibich (Wexford Festival, Irland), »Snatched by the gods/Broken strings« von Param Vir (Asia Festival, Wien), »Julietta« von Bohuslav Martinů (Oper Wuppertal) und Korngolds »Die tote Stadt« (Opéra du Rhin Strasbourg/Théâtre du Châtelet Paris). Inga Levant wurde mehrfach von der Fachzeitschrift OPERNWELT als Regisseur:in des Jahres nominiert und ausgezeichnet.

Sybille Fischer
studierte Operngesang an den Hochschulen für Musik und Theater in Hannover und Hamburg. Sie war Stipendiatin von Victoria de los Angeles in der Accademia Chigiana di Siena, Preisträgerin des Meistersängerwettbewerbs Nürnberg und der Elise-Meyer-Stiftung. Sie war festes Ensemblemitglied des Stadttheaters Aachen und gastierte an diversen deutschen Bühnen. 2020 war sie an den Münchner Kammerspielen für die musikalische Leitung sowie als Sängerin in der Performance »Etude for an Emergency« von Florentina Holzinger tätig.
Seit einigen Jahren ist Fischer freiberuflich als Sängerin mit einem Schwerpunkt auf zeitgenössischer Musik tätig, sie arbeitet mit verschiedenen freien Ensembles wie der Opernkompanie Novoflot, dem Ensemble Avantgarde, der Opera Factory Freiburg und der Jungen Oper Berlin. Sie war bei diversen Festivals zu Gast, unter anderem bei Ultraschall, MDR-Musiksommer, Warschauer Herbst, Maerz-Musik und den Richard-Wagner-Festtagen 2013 in Leipzig. In den letzten Jahren hat sie sich außerdem intensiv der Chorarbeit gewidmet.

Dragan Matić
erhielt 1991 seinen BFA in Kunst und 2000 seinen MFA an der Kunstakademie in Novi Sad, Serbien, wo er derzeit eine Vollzeitprofessur an der Abteilung für Bildende Kunst innehat. Von 2009 bis 2012 lehrte er als Gastprofessor an der Kunstakademie in Osijek, Kroatien. Seine künstlerische Praxis umfasst Malerei, Ready-made, digitale Fotografie, Video, Performance, elektronischen Sound, Land Art und Roboterdesign. Er hat seine Arbeiten in einer Reihe von Ausstellungen, Kunstprojekten und Filmfestivals gezeigt – sowohl national als auch international. Er ist Mitglied der Kunstgruppen Multiflex und Happy Trash Production. Seine Tätigkeit beinhaltet Konservierung, Restaurierung und Kunstunterricht für Menschen mit Hörbehinderungen.

Markus Zugehör
studierte an der Hochschule für Musik und Theater, Leipzig, sowie am CNSM de Paris Waldhorn, Klavier und Liedgestaltung. Er war Lehrbeauftragter an der Leipziger Musikhochschule, der Universität Halle sowie an der Universität der Künste Berlin. Seine Konzerttätigkeit führte ihn als Solist, Liedbegleiter und Kammermusiker u.a. durch Deutschland, Frankreich, Griechenland, die Schweiz, Spanien, Südafrika, Nordamerika sowie nach Indien, Benin und China (im Auftrag des Goethe-Institutes). Weiterhin wurden Rundfunk- und CD-Aufnahmen mit Markus Zugehör produziert (Wergo/Bayerischer Rundfunk, Mitteldeutscher Rundfunk, MDG, TALANTON records). Seit 2016 ist er außerdem als Pianist des Opernstudios bei der Staatsoper Berlin unter Vertrag.

Rafal Dziemidok
Festival Ortstermin Crossing 2020
Foto: Kiali