„Sehnsucht.Musik.Ank
Erinnern Sie sich noch? Im Winter 2017 nahmen die Presse ebenso wie die breite Öffentlichkeit Anteil an dem Schicksal von Pouya Raufyan. Der afghanische Musiker und Schauspieler war einer der Hauptdarsteller in der Opernproduktion ZAIDE. EINE FLUCHT. und von der Abschiebung bedroht. In einer Zeit, in der Happy-Ends selten geworden sind, scheint der glückliche Ausgang dieses Dramas beinahe surreal.
Und doch lebt Pouya Raufyan seit März 2017 mit gesichertem Aufenthaltsstatus in Deutschland. Sehnsucht.Musik.Ankunft. bringt nun das verantwortliche Team derZAIDE erstmals (wieder) auf und hinter der Bühne zusammen – ergänzt durch Walaa und Wissam Kanaieh aus Orfeo, der letzten Produktion von Zukunft Kultur, ehemals Zuflucht Kultur.
Der Titel dieses „Konzerts der Kulturen“ ist programmatisch. Denn längst definieren sich die Akteure nicht mehr nur über ihre Flucht. Sie haben begonnen, sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen, ohne ihre Wurzeln in der alten Heimat zu vergessen. Davon erzählen sie in arabischen Liedern, französischen Chansons und – im Fall von Pouya Raufyan – eigenen Kompositionen. Außerdem mit auf dem Konzertpodium im Hubertussaal von Schloss Nymphenburg: der Dam Badida Chor der Musikpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ein Ensemble aus klassischen und orientalischen Instrumentalisten – und natürlich Cornelia Lanz mit Opernarien von Rossini bis Wagner.
Flucht, Vertreibung, Schicksale – davon gab es in den letzten Jahren mehr als genug. Höchste Zeit, den Blick auf das zu richten, was jetzt ist: das Angekommen sein. Angekommen in Deutschland. In einem Land und einer Kultur, die so fremd nicht mehr sind. Angekommen mitten unter den Menschen, die hier leben. Angekommen in einer neuen musikalischen Heimat.
Sehnsucht.Musik.Ankunft., das sind Sängerinnen und Sänger, ein Chor, ein Instrumentalensemble und eine Menge widersprüchlicher Emotionen. Der Blick nach gestern ist kritisch distanziert und doch wehmütig. Denn die Verbundenheit mit den vielen positiven Seiten der früheren Heimat, mit den musikalischen Wurzeln lebt fort, trifft auf die althergebrachten Musikkulturen hierzulande. Klassische Koloraturen auf orientalische Melismen, Oud auf Geige. So vielfältig wie die Künstlerinnen und Künstler ist auch ihre Musik. Lieder aus Griechenland, Frankreich, Afghanistan, Ägypten, Tunesien, Spanien, Syrien und Deutschland treffen auf klassische Opernarien. Eine musikalische Collage als Brücke der Sehnsucht zu den eigenen Wurzeln, die vom Musikalischen Leiter Andreas Kowalewitz, meist nur nach Gehör, souverän in Partituren übertragen wurde. Schließlich mussten die orientalischen Stücke in Notenform gebracht werden, damit sie auch von den europäischen Musikern gespielt werden können.
Dazu Kowalewitz: „Die Beiträge unseres Projektes sollen so vielfältig sein wie die Protagonisten und ihr Anliegen. Da es um die Themen Flucht, Heimat, Angst, Verlust, aber vor allem auch Hoffnung geht, ist das Spektrum der Musik in kultureller wie stilistischer Hinsicht bewusst offen. Der Reiz unserer Aufführung wird darin bestehen, größtmögliche Freiheit in Darbietung und Klang mit musikalischer Struktur zu verbinden. Die Musik Afghanistans oder Syriens mit den europäischen Instrumenten wie Klavier, Geige und Cello zu spielen, ist auch für klassisch ausgebildete Musiker eine Herausforderung. Umgekehrt betreten Menschen aus Ländern, in denen „weltliche“ Musik größtenteils verboten ist, bei einem klassischen Konzert genauso Neuland. Besonders schön: ein für dieses Projekt entstandenes Chor-Ensemble der LMU, das dem Konzert mit empathischem Einsatz viel mehr als nur ergänzend Musikalisches beisteuern wird.“
Cornelia Lanz ergänzt zur Auswahl der Opernarien: „Diese Titel sind thematisch eng mit unserem Konzertprogramm verbunden. Das Spektrum reicht vom Leben unter dem Schleier – einmal tragisch (Schleierlied der Eboli aus Verdis Don Carlos), einmal komisch (Rossinis Die Italienerin in Algier) –, über das rastlose Reisen und die vergebliche Suche nach Heimat (Sentas Arie aus dem Fliegenden Holländer) bis hin zum romantischen Orientbild des 19. Jahrhunderts (Carl Maria von Weber, Oberon).
Zusätzlich zum Konzert laden eine Gemälde-Ausstellung im Foyer, eine Einführung und Kamingespräche dazu ein, mehr über die Protagonisten und ihre individuellen Geschichten in Deutschland zu erfahren.
Für den Konzertabend zeichnet das bewährte Team von ZAIDE. EINE FLUCHT. verantwortlich: Albert Ginthör (Veranstalter, Deutsches Forum für Musik- und Theaterkultur e.V.), Dr. Dana Pflüger (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Cornelia Lanz (Zukunft Kultur e.V.). Ebenso wie ZAIDE ist Sehnsucht.Musik.Ankunft. ein Lehrprojekt für Studierende aller Fächer des Departments Kunstwissenschaften. Sie gestalten das Rahmenprogramm, schreiben das Programmheft, drehen einen Video-Trailer und übernehmen die Social Media-Kommunikation.
Sehnsucht.Musik.Ankunft.: Das künstlerische Team
Andreas Kowalewitz (Musikalische Leitung & Arrangements)
sammelte erste musikalische Erfahrungen als Sopransolist des Knabenchors Hannover. Nach dem Klavier- und Dirigierstudium in Hannover folgten Engagements als Kapellmeister an die Theater Kassel, Dortmund, Essen, Nürnberg, Bonn, Brüssel und München. Parallel verfolgt er eine rege Konzerttätigkeit als Dirigent, Pianist und mit dem Ensemble Cellikatessen, unter anderem bei der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern, WDR Rundfunkorchester, dem Münchner Kammerorchester, den Münchner Symphonikern, dem Rundfunkorchester des BR, den Nürnberger Symphonikern, dem Athener Staatsorchester sowie bei zahlreichen Festivals von Schleswig-Holstein bis Dresden. Im März 2017 dirigierte er die Uraufführung Frau Schindler von Thomas Morse am Staatstheater am Gärtnerplatz in München. Kowalewitz ist zudem ein gefragter Arrangeur, unter anderem für den BR und WDR, die Blechbläser der Berliner Philharmoniker oder die Münchner Symphoniker.
Seit 2014 ist Cornelia Lanz die Seele von Zuflucht Kultur – heute Zukunft Kultur. Als Produzentin, Leiterin, Initiatorin und Sängerin engagiert sie sich für die auch medial stark beachteten Opernproduktionen und musikalisch-literarischen Programme mit sozialpolitischer Note. Die international gefragte Mezzosopranistin tritt mit Orchestern wie dem Zürcher Kammerorchester, dem Kammerorchester der Münchner Philharmoniker oder den Berliner Symphoniker auf. Sie war unter anderem zu hören in der Tonhalle Zürich, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, dem Prinzregententheater München und in der Liederhalle Stuttgart. Sie sang beim Lucerne-Festival, bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen und beim Europäischen Kirchenmusikfestival Schwäbisch Gmünd. Beim Klassiklabel Animato sang sie die Titelrolle in Händels Oper Oreste ein. Ihr Lied-Debutalbum Carattere di Donne. Frauenrollen und Frauengestalten bei Schubert, Rossini und Verdi erschien bei Hänssler-Classic. Vor kurzem hat sie das Album Sie liebten sich beide mit Liedern von Robert und Clara Schumann sowie Johannes Brahms eingespielt. Zuletzt drehte Cornelia Lanz auf Gran Canaria. Dort wirkte sie mit bei einer Verfilmung der Walküre unter der Regie von Katharina Wagner für ein Gastspiel der Bayreuther Festspiele in Abu Dhabi.
Mehr Informationen: www.cornelia-lanz.com & www.zukunft-kultur.de
Die Geschichte von Pouya Raufyan, Künstlername Pouya, hielt von Dezember 2016 bis Mitte März 2017 Zuflucht Kultur – und die halbe Republik – in Atem: Der Musiker und Schauspieler war von der Abschiebung nach Afghanistan bedroht. Um einer Wiedereinreisesperre zu entgehen, reiste der „Gomatz“ aus der Zuflucht Kultur-Produktion ZAIDE.EINE FLUCHT. „freiwillig“ nach Kabul. Begleitet wurde er von seinem mutigen Musiker-Kollegen und Veranstalter der Münchner ZAIDE, dem Geiger Albert Ginthör, der entscheidend dazu beitragen sollte, dass Pouya Raufyan mit einem Arbeitsvisum nach Deutschland zurückkehren konnte. Die Hauptrolle des Ali in Fassbinders Angst essen Seele auf am Münchner Theater Schauburg sowie weitere Engagements am Staatstheater am Gärtnerplatz, am Jungen Theater Augsburg und am Staatstheater Darmstadt sicherten seinen weiteren Aufenthalt in Deutschland. Bis heute wird Pouya Raufyan immer wieder auf seine Erlebnisse angesprochen. Deshalb arbeitet er aktuell auch an einem Buch über sein bisheriges Leben, damit alle seine ganze Geschichte lesen können.
Wissam Kanaieh kam direkt nach ihrem Abitur nach Deutschland, zusammen mit ihrem Vater und ihrer Schwester Walaa. Sie spricht fließend Arabisch, Französisch und Englisch und liebt andere Sprachen und andere Kulturen. Mit ihrer wunderbaren Stimme tritt sie bei Konzerten von Zukunft Kultur mit arabischen Solos auf und gibt Workshops in Schulen, Flüchtlingsheimen und Universitäten. Sie betont stets das große Glück, ihre Gedanken in Deutschland frei äußern zu können und appelliert für Frieden, Völkerverständigung und Frauenrechte. In der Zuflucht Kultur-Produktion Carmen sang sie die Rolle der Maria, in Orfeo die Rolle des Amor. Zur Zeit macht sie eine Ausbildung zur Erzieherin.
Walaa Kanaieh kam im März 2016 von Syrien nach Deutschland. Sie wuchs mit den Sprachen Französisch und Arabisch auf und spricht sehr gut Englisch. Ihr großes Sprachtalent möchte sie beruflich einsetzen und in einem Studium in Deutschland weiterbilden. Sie traf Cornelia Lanz beim Welcome Café der Münchner Kammerspiele und ist seitdem bei Projekten von Zukunft Kultur in tragenden Rollen auf der Bühne – in Carmen als Manuelita und zuletzt in Orfeo als Al-Mitra. Ihre Motivation: Indem sie ihre Geschichte auf der Bühne und in einem freien, friedlichen Land erzählt, lernt sie, besser mit ihrer Vergangenheit umzugehen.
Vom Veranstalter zum Weggefährten: Seit dem Drama um Pouya Raufyan verbindet Albert Ginthör und Zukunft Kultur eine enge Freundschaft. Gemeinsam mit dem Verein Deutsches Forum für Musik- und Theaterkultur e.V. holte er im Januar 2017 drei Aufführungen von ZAIDE.EINE FLUCHT. in die Alte Kongresshalle München. Was als normale Wiederaufnahme geplant war, entwickelte sich zum Politkrimi. Und Albert Ginthör, im Hauptberuf Geiger im Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz, entschloss sich aus Solidarität mit seinem Musikerkollegen, Pouya Raufyan nach Kabul zu begleiten und sich vor Ort für dessen Rückkehr nach Deutschland einzusetzen. Für seinen Mut wurde Ginthör im April 2018 von der Deutschen Orchestervereinigung mit einem Preis für sein humanitäres Engagement ausgezeichnet. Mit Sehnsucht.Musik.Ankunft. geht für Ginthör und Pouya ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung: Seite an Seite auf einer klassischen Konzertbühne zu stehen.
Dr. Dana Pflüger studierte Musiktheater-Dramaturgie an der LMU und der Bayerischen Theaterakademie und promovierte über die Verbindungen von Musik und Handlung in Oper und Film. Sie arbeitet als Wissenschaftliche Koordinatorin für das Praxisbüro des Departments Kunstwissenschaften an der LMU und als Licht-Inspizientin an der Bayerischen Staatsoper. Als LMU-Dozentin bietet Pflüger seit 2012 praxisnahe Kurse im Bereich Kulturmanagement an. Gemeinsam mit Regina Wohlfarth und in Kooperation mit Albert Ginthör und dem Gärtnerplatztheater realisierte sie die Lehrveranstaltung Sommer am Gärtnerplatz, die 2014 mit dem Lehrinnovationspreis der LMU ausgezeichnet und von der League of European Research Universities als Beispiel für exzellente Lehre hervorgehoben wurde. Freiberuflich ist Dana Pflüger immer wieder auch als Dramaturgin tätig, zuletzt für ZAIDE. EINE FLUCHT..
Sehnsucht.Musik.Ankunft. Ein Konzert der Kulturen
Donnerstag, 7. Februar 2019 & Freitag, 8. Februar 2019, Schloss Nymphenburg, Hubertussaal
Rahmenprogramm ab 18:00 Uhr. Konzertbeginn um 19:00 Uhr.
Eine Kooperation von Deutsches Forum für Musik- und Theaterkultur e,V., Department Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München und Zukunft Kultur e.V.
Musik: Mohammed Abd el-Wahhab, Gilbert Bécaud, Hédi Jouini, Enrico Macias, Pouya Raufyan, Gioachino Rossini, Franz Schubert, Giuseppe Verdi, Richard Wagner, Carl Maria von Weber
Gesang: Walaa Kanaieh & Wissam Kanaieh (Syrien), Cornelia Lanz (Deutschland), Pouya Raufyan (Afghanistan) und andere
Instrumentalensemble: Albert Ginthör (Violine), Ludwig Hahn (Violine), Marianne Venzago (Viola), Hans Peter Besig (Violoncello), Thomas Hille (Kontrabass), Abathar Kmash (Oud), Said Hashemi (Tabla), Pouya Raufyan (Harmonium)
Dam Badida Chor der Musikpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Chorleitung: Leonie Hundertmark
Musikalische Leitung & Arrangements: Andreas Kowalewitz