Das Ballettstück NIJINSKI von Marco Goecke, getanzt von der Gauthier Dance Company des Theaterhauses Stuttgart, erzählt u.a. zu Werken von Frédéric Chopin oder Alexander Glazunow aus dem Leben des Tänzers und Choreographen Waslaw Nijinski. Modern choreographiert wird deutlich, wie nah Kunst und Wahnsinn beieinander liegen können. Als Tänzer verkörperte Nijinski Figruren, welche die Tanzgeschichte bis heute prägten. Seine Partien bei den Ballets Russes (z.B. der Clown in „Petruschka“ von Igor Strawinski) sind in das kollektive Gedächtnis der Tanzwelt eingegangen. Der bis heute kaum erreichte Theaterskandal, welchen Nijinskis Choreographie „Le sacre du printemps“ bei den Pariser Publikum 1913 verursachte, gibt Aufschluss über seine visionäre Kraft und künstlerische Tragweite. Eng verwoben mit der Karriere Nijinskis ist die Dynamik in den Wahnsinn und sein Kampf gegen die Schizophrenie, die ihn zwangen, sich mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Nijinski erlebte beide Weltkriege. Als Patient in Nervenheilanstalt war er den Bedrohungen des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms ausgesetzt. 1945 zog Nijinski mit seiner Frau Romola nach London, wo er sich wieder der Öffentlichkeit zuwandte. Bis zu seinem Tode 1950 lebte er in der englischen Hauptstadt. Erst 1953 wurde er auf den Cimetière de Montmartre umgebettet.
In drei Teilen und neun Bildern inszeniert der Choreograph Marco Goecke das Leben Nijinskis im Stuttgarter Theaterhaus und bedient sich dabei choreographischen (Ur-)Elementen des Künstlers. Im ersten Teil stehen die Aspekte das „Erwachens“ der Kunst durch die göttliche Muse des Tanzes Terpsichore, getanzt von Garazi Perez Oloriz, sowie die extraordinäre Persönlichkeit des Impresarios und Kunstkenners Sergei Pawlowitsch Djagilew, getanzt von David Rodriguez im Mittelpunkt. In dieser Ouvertüre stellt Goecke die Kraft der Kunst in den Mittelpunkt seiner Inszenierung und suggeriert eine aufkeimende Dynamik, welche den Geist des Wandels in sich zu tragen scheint. Terpsichore haucht auch Djaghilew den göttlichen Funken ein und lässt ihn die Kraft spüren, wie es wäre die russische Kunst in Europa zu etwas Großem zu führen. 1909 stellt dieser aus den besten Tänzern eines der bedeutendsten Ballettensembles des 20. Jahrhunderts zusammen: die Ballets Russes. Unter dem Dogma L’art pour l’art wirkte das Ensemble unter seiner Leitung in Paris und ab 1911 mit Sitz in Monte Carlo. Michel Fokine, Léonide Massine und George Balanchine legten mit der Kompanie den Grundstein für das moderne Ballett, und Tänzer Nijinski und Anna Pawlowa avancierten zu internationalem Stars.
Hauptthema des zweiten Teils der Goecke-Inszenierung ist das Leben Nijinskis. Tragende Leitfigur ist dabei seine polnische Mutter: die Matka, gespielt von Alessandra La Bella. Sie sorgt für ihn, fördert sein Talent und lässt ihrem Sohn eine Tanzausbildung an der Imperial Ballett-Akademie in St. Petersburg zukommen. Und so nehmen beide auf der Bühne in einer sensiblen Innigkeit Abschied voneinander. An der Akademie beeindruckt sein Talent. Im jungen Nijinski regt sich das sexuelle Begehren; ein Erwachen. Djaghilew wird auf Nijinski aufmerksam, und zwischen dem bekennenden Homosexuellen aus St. Petersburg und dem jungen Tänzer entsteht im Ballets Russes eine Hassliebe, welche Marco Goecke gekonnt in einem spannungsgeladenen wie faszinierenden Pas de deux inszeniert. Von einer Obsession getrieben geben sich Diaghilew (David Rodriguez) und sein Liebhaber Nijinski (Rosario Guerra) im Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz dem Begehren zueinander hin. Geliebt von Diaghilew ist Nijinski im dritten Teil auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angekommen. Seine Grazie und Sprungtechnik – er schien förmlich in der Luft einen Sprung anhalten zu können – verzauberten. Doch es kommt zum Bruch zwischen beiden, und eine dunkle Macht quält Nijinski: Schizophrenie. Goecke lässt diese immer wieder in ekstatischen Bewegungsabläufen voller Kraft – eines Sichaufbäumens – auf der Bühne ausbrechen. Der Zuschauer möchte Nijinski erlösen und bleibt ein zur Untätigkeit Verdammter.
Mit der Nijinski-Inszenierung zeichnen Marco Goecke und die Gauthier Dance Company einen Menschentypus, der sich im Erfolg verliert und über das eigene Ich zu stürzen droht. Und so sind auch die Pas des deux Ausdruck voller Ambivalenz und Neigung zweier Männer zueinander. Und letztlich ist diese Inszenierung das Porträt eines Geistes, der sich nach Freiheit sehnt, sich der Kunst bedient und sich stets im Kreise des Eigenen bewegt. Was bleibt, sind der Wille, die Schönheit sowie die Exzessivität, von Nijinski als Kreise manisch auf den Boden gezeichnet, der ihn nicht mehr zu tragen scheint. Und so verneigt er sich im Sterben vor den Lebenden – dem Publikum – welche mit Standing Ovations die unglaubliche tänzerische Leistung sowie die minimalistischen und dennoch ausdrucksstarken Bilder des Choreographen Marco Goecke honorieren. Das ist Ballett.
Text: ZeitBlatt | Andre Biakowski
Fotos: © Regina Brocke | Theaterhaus Stuttgart
Redakteur: Andre Biakowski