SHATTERED – transformations of cubism

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden Picasso und seine Zeitgenossen Zeugen beispielloser technologischer Revolutionen: Die Elektrifizierung der Städte war in vollem Gange, Autos wurden dank der Großserienfertigung durch Ford massenkompatibel und erschwinglich, Flugzeuge eroberten die Lüfte und die Menschen ließen sich von Bewegtbildern in den neu eröffneten Kinos verzaubern.


Dem jungen spanischen Künstler, der sich 1904 in der Kunstmetropole Paris ansiedelte, schienen Gemälde, die eine Illusion der Realität schufen, plötzlich überflüssig. Inspiriert von dem post-impressionistischenSpätwerk Cézannes, und mit dem ehrgeizigen Wunsch, den zehn Jahre älteren Matisse – der gerade den Fauvismus erfunden hatte – zu übertreffen, suchte Picasso intensiv nach adäquaten Darstellungsmöglichkeiten, um einer sich im Wandel befindenden und sich stetig komplexer anfühlenden Welt Ausdruck zu verleihen. Vor allem die persönliche Entdeckung der archaischen iberischen Kunst im Jahr 1906 führte zur vollständigen Überwindung des bisherigen neoklassizistisch geprägten Oeuvres Picassos. Nun endlich, nach einer Phase der kreativen Stagnation, mit einer Idee ausgestattet, machte er sich manisch ans Werk: In über 800 Skizzen vorbereitet, arbeitete er insgesamt über mehrere Monate hinweg an einem Gemälde, das Einflüsse von der Antike, der iberischen und afrikanischen Kunst, der Renaissance bis hin zu Zitaten von El Greco und Ingres einfließen ließ und zu etwas radikal Neuem führte. Les Demoiselles d’Avignon(1907): Ein Schock; eine Revolution in der Kunst; ein Gemälde, das die wohl einflussreichste Kunstströmung des 20. Jahrhunderts einleiten sollte: den Kubismus!

In engem Austausch entwickelten Picasso und Braque ab 1908 den kubistischen Stil parallel weiter. Die mehransichtige Darstellung eines Bildgegenstandes und die Auflösung der Zentralperspektive waren zwei wesentliche Aspekte, um das angestrebte Bewusstsein einer neuen Bildgesetzlichkeit zu erzielen. Die Erfahrung und das Wissen über einen Gegenstand sollten ebenso bildimmanent werden, wie dessen Empfindung, um die rein naturalistische Nachahmung in der Malerei zu überwinden. Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts befinden wir uns heute wieder in einer Zeit beispielloser technologischer Revolutionen. Und wie so oft in der Geschichte führen solch tiefgreifende Veränderungen zu Wechselbeziehungen zwischen Aufbruchsstimmung und Technikglaube einerseits und Nervosität und Überforderungsempfindungen anderseits.

Die Ausstellung SHATTERED – transformations of cubism möchte anhand der ausgewählten Werke unterschiedliche Spielarten stilverwandter Elemente des Kubismus aufzeigen und nachvollziehen, wie und warum Gegenwartskünstler diese Stilrichtung für sich einsetzen und weiterentwickeln. Doch über eine reine Stilkritik hinaus möchte die Ausstellung auch den Zustand des Körpers im postindustriellen Zeitalter untersuchen und nachspüren, welchen Empfindungswelten die dargestellten Menschenbilder entsprechen.

Die ausgestellten Werke eint die Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur im Kontext der Malerei. Die beiden Arbeiten Shifted Sims #21 (2020) von Pieter Schoolwerth und Weisswälder Kirschtorte (2021) von Zohar Fraiman thematisieren u.a. explizit die Beziehung zwischen Mensch und digitalen Technologien. Als Grundlage von Schoolwerths Gemälde fungiert ein gedruckter Screenshot aus dem Computerspiel „Sims“. Eine soziale Lebenssimulation – bei der der Spieler durch Befehle äußere Zustände verändern kann, um eine autonom laufende Simulation zu beeinflussen –, ohne jedoch das simulierte Objekt selbst steuern zu können! Der Spieler nimmt zugleich die Position eines Schöpfers, Lenkers und Beobachters ein und begleitet seine Avatares dabei, mit den Widrigkeiten des „Lebens“ zurechtzukommen. Die Charaktere in Schoolwerths Werk finden ihren Widerhall in Form von deckungsgleichen Schatten, die möglicherweise als eine Reminiszenz an den noch real existierenden Menschen vor dem Bildschirm zu deuten sind.

Während uns Schoolwerth mit einer simulierten Parallelrealität konfrontiert, beschäftigt Zohar Fraiman die Identitätsfrage im Zeitalter sSozialer Medien. Welche Vorbilder werden jungen Frauen dort vermittelt? Welchen eifern sie nach? Identifizieren sie sich mit Shegoder sarkastisch, wenngleich intelligenten und hübschen Assistentin von Dr. Drakken aus der Zeichentrickserie Kim Possible (Walt Disney Company), oder fühlen sie sich bereits als vulnerable Heranwachsende dazu gedrängt, das Bild von erwachsenen Kindern abzugeben? Jene beiden Typen verbindet das Doppelporträt in Fraimans Werk: die „fiese“ Shego und ein ernst blickendes Mädchen, das im Stile des polnisch – französischen Malers Balthus ausgeführt ist. Brisant ist diese Gegenüberstellung oder Verschmelzung allemal. Wurde doch im Zusammenhang der #metoo Debatte den Werken Balthus vehement die „ästhetisch-erotische Ausbeutung Minderjähriger“ attestiert.

Der Schönheitswahn und der Wunsch zur Selbstoptimierung scheint jedenfalls durch die sSozialen Netzwerke befeuert zu werden. Davon mag auch das Gemälde „Just another weekend (Cantabile)“ (2022) von Johannes Daniel zeugen: eine in einen Bikini gekleidete, sich auf einer grün bezogenen Biedermeier Chaiselongue räkelnde, junge Frau, die einer Werbung entsprungen zu sein scheint, blickt den Betrachter verunsichert an. Fließende, informelle Strukturen umwirbeln sie. Geht man zu weit, diese als Versinnbildlichung eines Gefühlschaos zu deuten? Subtil im Bild erscheinen drei Repräsentationen von Weiblichkeit: Die abstrakt entkörperlichten, blau roten Frauenfiguren die an Matisses Werk „Großer liegender Akt“ (1935) denken lassen; die den Bildraum einnehmende Bikiniträgerin; und ein kleines, merkwürdig schimmerndes und verzerrtes Profilfragment einer jungen Schönen. Bei letzterem handelt es sich um die Darstellung eines aktivierten Instagram-Filters. Ist die Verunsicherung des Modells also darauf zurückzuführen, dass selbst die Inszenierung von Schönheit im Realen gegenüber der übersteigerten Repräsentation von Attraktivität im Netz verblasst? Und wie vermag sich jene, daraus resultierende, autosuggestive Unzufriedenheit auswirken?

Im Kontext dieser Frage mag zur Beantwortung Armin Boehms Werk „untitled“ (2016) herangezogen werden. Seine ineinander verkanteten Porträts von einem Mann und einer Frau lassen keinen Zweifel am Zustand ihrer Beziehung. Ihre leeren, nach innen gerichteten Blicke sind von Gleichgültigkeit erfasst. Die körperliche Nähe steht im Widerspruch zu ihrer offenkundig seelischen Entfremdung. Selbst der dargestellte Akt brutaler körperlicher Gewalt provoziert keine Regung. Wohl aber vermag der Anblick der riesigen Schere kindliche Albtraumassoziationen an den Schneider aus dem „Struwwelpeter“ (1844) wachzurufen. Dieser schnitt dem kleinen Konrad die Daumen ab, weil er nicht aufhören konnte, daran zu lutschen. Wie in Heinrich Hoffmanns – pädagogisch mittlerweile überholt wirkendem – Kinderbuch gelingt es Boehm, zentrale unbewusste Fantasien zu mobilisieren, deren Erforschung nicht nur Gegenstand der psychoanalytischen Praxis sind, sondern denen wir eben auch mittels der Kunst begegnen können.

Während wir bei Boehm die Abtrennung des Körperteils als Imagination begreifen können, begegnen uns in dem Werk „Reverse“ (2016) von Kristina Schuldt Gliedmaßen gänzlich anderer Natur: klobige, rundlich-röhrenförmige Arme und Beine bevölkern das Bild! Sie wirken wie mit einem Eigenleben ausgestattet. Auf durchaus humoristische Weise greift Schuldt den kubistischen Stil Fernand Légers auf, der auch als „Tubismus“ bezeichnet wird. Fragmente eines Fahrrades sind zu erkennen. Werden wir möglicherweise Zeuge eines Radunfalls, dessen zeitliche Abfolge Kristina Schuldt aufhebt und uns als gleichzeitig Ereignendes präsentiert?

Das Stilmittel des Humors ist auch Anton Henning zu eigen. In seinem Werk „Pin-up No. 265“ (2019) begegnen wir einer, nur noch in den Grundmerkmalen, als menschliche Figur auszumachenden Gestalt. Das geometrisch konstruierte Gesicht und der in Auflösung befindliche Körper gleichen eher einer Karikatur, als der mit dem Titel evozierten Vorstellung eines Pin-up Girls. Oder doch? Die Figur, die auf ihre sekundären Geschlechtsmerkmale reduziert zu sein scheint, könnte auch den „männlichen Blick“ auf lustig-böse Weise entlarven.

Individuelle Führung:    Jederzeit nach Vereinbarung
Opening:                          Mittwoch, 27. April, 18–21 h, Aftershow Drinks 
Dauer:                              Bis 11. Juni
 
Künstlerinnen und Künstler:
Armin Boehm, Johannes Daniel, Zohar Fraiman, Anton Henning, Pieter Schoolwerth, Kristina Schuldt / curated by Philipp Bollmann.

Streustraße 90, 13086 Berlin
Tel.: +49 (0)30 93028725