Das Hirschberger Tal am Fuße des Riesengebirges, gerade einmal zwei Autostunden südwestlich von Wroclaw (Breslau), ist ein wahres Kleinod Polens. Es verzaubert mit Weite, Bergpanoramen und zahlreichen Schlössern, umgeben von Parks und Seen. Nirgendwo in Europa findet man eine solche Dichte an historischen Palästen und Gutshäusern, wie in der Region um Jelina Góra (Hirschberg); im „Tal der Schlösser“. Aber warum und was es mit den Schleierherren dort auf sich hat, das will ich herausfinden. Meine erste Station ist das kleine Dörfchen Piechowice. Im Schloss Pakoszów werde ich für vier Tage wohnen, um mehr über die Leinenproduktion und –handel im 17. und 18. Jahrhundert in Schlesien zu erfahren.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelt sich Hirschberg zum Zentrum der Leinenproduktion. Grund dafür war die von einem Handwerker aus Holland eingeführte Technik der Schleierweberei. Der österreichische Kaiser Ferdinand II. verlieh 1630 der Stadt Hirschberg dafür das Monopol und die Region blühte wirtschaftlich auf. Das elegante, weiche Schleierleinen wurde zu einem Markenzeichen Hirschbergs. Doch nicht nur in der Stadt wurde gewoben und gesponnen. Auch in den kleinen Gebirgsorten wurde Flachs angebaut und zu meist gröberem Leinen u.a. für Leinwände verarbeitet. Für Kleinbauern und Landarbeitern bedeutete die Spinnerei und Weberei in Heimarbeit ein Nebenerwerb, wie ein Gemälde im Konferenzraum des Schlosses Pakoszów zeigt.
Das Leinen verkauften die Heimweber auf den Märkten der Städte an Händler oder an über das Land ziehende Aufkäufer. Mit aufkommendem wirtschaftlichen Erfolg entwickelt sich eine Art Machtkampf zwischen den Kaufleuten in den Städten, adligen Grundbesitzern wie z. B. Graf Christoph Leopold von Schaffgotsch und den Aufkäufern auf den Dörfern. Die Gutsherren setzen sich jedoch für einen Dorfhandel ein, da dieser den Webern die Wege in die Städte ersparte und ihnen eine Unabhängigkeit von den strikten Regeln der städtischen Handelsherren ermöglicht.
Für das notwendige Bleichen und Veredeln des Leinens sorgten die Kaufleute. So auch der Hirschberger Kaufmann Johann Martin Gottfried, der 1725 in Wernersdorf (Pakoszów) ein Herrenhaus errichten ließ, welches zugleich als Manufaktur und Wohnsitz in den Sommermonaten genutzt wurde. Das Erdgeschoss der Dreiflügelanlage sowie die angrenzenden Nebengebäude wurden zur Lagerung der Leinwände genutzt. Geblichen wurden dieses auf dem freien Grundstück vorm Herrenhaus. Im Obergeschoss befanden sich ein aufwändig gestalteter Barocksaal sowie repräsentative Wohn- und Gesellschaftsräume, in welchen u.a. Friedrich der Große sowie der US-Präsident John Quincy Adams zu Gast waren. Nach der Heirat zwischen der Enkelin Gottfrieds und dem Kaufmann Johann Heinrich Heß 1771 nutzte das Paar das Herrenhaus das ganze Jahr als Wohnsitz und wird daher als Heß’sche Bleiche in historischen Quellen erwähnt. Bis 1945 blieb das heutige Schloss im Sitz der Familie.
Es ist Spätsommer in Piechowice. Im Poloshirt sitze ich auf der Sonnenterrasse des heutigen Schloss Pakoszów, habe mir ein Stück Schlesischen Pflaumenkuchen sowie eine Tasse Kaffee bestellt und lasse meinen Blick über die großen freien Rasenflächen streifen, die einst zum Bleichen des Leinens genutzt wurden. Beim Blättern in der Broschüre über das „Tal der Schlösser“ stolpere ich über einen Kupferstich, welcher wie auf dem mir bekannten von Johann Martin Gottfried, einen Schleierherrn in Verbindung mit seinem Schloss darstellt. Der Stich zeigt Christian Mentzel, den Schwiegervater Gottfrieds, in Verbindung mit einem Speicher- und Kantorhaus, welches er vermutlich 1740 auf dem 1738 erworbenen Rittergut Lomnitz errichten ließ. Ich möchte mehr über den Kaufmann erfahren und beginne zu recherchieren.
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Christian Mentzel und das heutige Schloss Lomnitz in einem Kupferstich von Johann Martin Bernigeroth aus dem Jahr 1749 (l.). Schwiegersohn Johann Martin Gottfried mit dem Herrenhaus Wernersdorf, dem heutigen Schloss Pakoszów, vor welchem zum Bleichen Leinenbahnen aufgespannt dargestellt sind (r.)
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Der in Hirschberg geborene Schleierherr Christian Mentzel (1667-1748) war einer der einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit in Schlesien. Nach seiner Lehrzeit zum Kaufmann lernte er auf unterschiedlichen Reisen nach Holland, England, Portugal und Spanien die jeweiligen Techniken der Leinwandherstellung sowie des Vertriebes kennen. Nach diesen Reisen gründete Mentzel sein eigenes Leinenhandelshaus in Hirschberg und lässt sich 1692 in die Sozietät der Hirschberger Kaufmannsgilde eintragen. Sein Bestreben war nicht nur ein repräsentativer Lebensstil, sondern vor allem das Erschließen neuer Freiflächen als Bleichplätze sowie für den Bau von Gebäuden für die Leinwandverarbeitung. Den Schwiegervater als Vorbild, vereinte auch Johann Martin Gottfried mit seiner Bleiche in Wernersdorf Unternehmen und einen herrschaftlichen und repräsentativen Lebensstil unter einem Dach. 1835 erwarb die heute wieder in Lomnitz lebende Familie v. Küster das Hauptschloss Mentzels sowie das nachträglich gebaute Witwenschloss. Carl Gustav Ernst v. Küster baute das Hauptschloss im klassizistischen Stil um und lies den noch heute erhaltenen zehn Hektar großen Landschaftspark anlegen. Bis Ende des Zweiten Weltkrieges lebte die Familie v. Küster in Lomnitz. Nach ’45 wurde das Schloss sowie das Gut von der Volksrepublik Polen enteignet, verstaatlicht und bis 1979 als Schule genutzt. Erst 1991 kaufte die Familie v. Küster das Schloss als Ruine, das kleine Schloss sowie das Gut vom polnischen Staat zurück und baute die verfallene Anlage Stück für Stück wieder auf. Heute befindet sich im restaurierten Schloss u.a. ein Hotel.
Doch eines interessiert mich dann doch noch: Warum und wie ging die Ära der Schleierherren im Hirschberger Tal zu Ende. Was war der Auslöser dafür? Anfang des 19. Jahrhunderts endet die Blütezeit des Leinens aus Schlesien. Gründe dafür sind das Wegbrechen der Absatzmärkte u.a. in England sowie die Napoleonische Kontinentalsperre. Zeitgleich entwickelt sich in England und Nordamerika die Baumwollindustrie immer stärker. Ein weiterer Faktor war der preiswertere Leinen aus Osteuropa. Für die Kaufleute und Schleierherren wurde es somit immer schwerer sich mit Waren aus traditioneller Handarbeit der Heimweber auf den Märkten zu behaupten und gaben den Preisdruck an die Weber weiter in dem sie ihre Löhne stetig senkten. Dies bedeutete das Ende der Ära der stolzen Hirschberger Handelshäuser sowie die kontinuierliche Verarmung der Weber, die in den 1840er Jahren letztlich in Unruhen und Hungerrevolten mündet. Gerhart Hauptmann greift diese Unruhen, den Weberaufstand von 1844, in seinem in fünf Akten angelegten Drama „Die Weber“ auf. Wie unter einem Brennglas zeichnet Hauptmann mit seinem 1892 erschienen Werk das Porträt einer verarmenden Gesellschaftsschicht: der Weber in Heimarbeit. 1912 wurde Gerhart Hauptmann der Nobelpreis für Literatur verliehen, welcher 1946 in seiner Schlesischen „Villa Wiesenstein“ in Agnieszków verstarb. Heute kann diese als Gerhart-Hauptmann-Haus besichtigt werden.
Text: ZeitBlatt / Andre Biakowski
Photos: Wolfgang Straßer