Es ist schon beeindruckend, wie sich eine Stadt neu erfinden kann. Die drittgrößte Stadt Polens Łódź tut dies durch die Wiederbelebung ihres historischen Erbes als Textil- und Industriestadt im 19. und 20. Jahrhundert. Nach dem Ende der Sowjetunion lag die einstige Textilfabrik Manufaktura des Moguls Izrael Poznański brach. Auf einer Fläche von mehr als zehn Fussballfeldern kein Rattern der Webstühle und Maschinen in den 13 Fabrikgebäuden mehr. Industriebrache. Durch den französischen Investor Apsys wurde das Gelände der „Manufaktura“ wiederbelebt und gilt neben dem Wiederaufbau der Warschauer Altstadt mit Bausumme von 200 Millionen Euro als das aufwändigste städtebauliche Projekt Polens. Die „Manufaktura“ ist heute das Wahrzeichen der Stadt Łódź und ein beliebtes Freizeit- und Shopping Areal. In einem der 13 Fabrikgebäude befindet sich heute das Andel’s, ein Viersterne Hotel, welches zu den besten Polens gehört und in welchem ich mir ein Zimmer mit Blick über das gesamte Fabrikareal gönne.
Das letzte Mal besuchte ich Łódź 2013. Schlenderte durch die Gassen, vorbei an restaurierungsbedürftigen Stuckfassaden und spürte ihren Pulsschlag im Takt der an- und abfahrenden Trams. Ich bin zurück. 2017. Das Wetter lässt zu wünschen übrig und doch entdecke ich im Nieselregen eine Stadt, welche gerade von jungen Menschen (wieder-)belebt wird. Die einstigen Produktionsstätten für Tuch- und Stoffwaren als Exportwaren in die ganze Welt, werden heute als Kunst- und Kulturstätten genutzt. Fünf Jahre sind seit meinem letzten Besuch vergangen und Łódź zieht mich in seinen Bann mit einem Lebensgefühl zwischen kleinen Modeboutiquen und Bars in ehemaligen Websälen. Wen stört da noch der Nieselregen? Ich lasse mich über die vier Kilometer lange Ulica Piotrkowska vom Platz Wolnosci hinunter treiben. Habe Zeit, gleiche im Kopf ab, was sich geändert hat und Rikscha-Fahrer treten für regenscheue Touristen kräftig in Pedalen.
Standen am unteren Ende der Ulica Piotrkowska 2013 auf einem leeren Platz kleine Buden, in welchem man auf die Schnelle asiatische Gerichte mit polnischem Krautsalat bekam, befindet sich dort heute das Piotrkowska-Center. Wie die „Manufaktura“ wurden auch hier Industriebauten im roten Klinker mit neuen Nutzungskonzepten wiederbelebt, doch der Charme ist ein anderer und lockt mich. Wie im Berliner Kiez Prenzlauer Berg ist man hier hip – mit Beanie und dicker schwarzer Retrobrille. Trotz Nieselregen sitzen Studenten, Pärchen in Cliquen unter den Heizpilzen und trinken Bier aus Bügelflaschen, selbstgemachte Rhabarberschorle oder Club-Mate. Auf der Speisekarte stehen keine Gołąbki – jene polnische Kohlrouladen -, sondern Sepianudeln mit Meeresfrüchten oder als Snack Karottenchips. Berlin ist nach Osten gewandert und ich breche mit der Tram zur „Weißen Fabrik“ auf.
In der 1835 – 1839 von Ludwig Geyer erbauten Fabrik befand sich die erste mechanische Baumwollspinnerei und – weberei in Łódź. Angetrieben wurde diese von der ersten Dampfmaschine der Stadt, so steht es in meinem Stadtführer. Ich steige eine Haltestelle ganz in der Nähe aus und sehe die Weiße Fassade schon von weitem. Mein Reiseführer empfiehlt mir in einem kurzen Absatz die Ausstellung historischer Textilwerkzeuge zu besichtigen. Ich kaufe mir ein Ticket für die gesamte Fabrik und betrete einen kleinen Saal mit Webstühlen. Ein Mann, nennen wir ihn Jurek, wirft zwei historischen Webstühle an und ohrenbetäubender Lärm nimmt den Saal ein. Im Hintergrund eine wandfüllende historische Aufnahme eines Websaales der „Weißen Fabrik“ mit hunderten ratternden Maschinen. Wie laut muss es damals gewesen sein. Ich schreie Jurek gegen den Lärm der Maschinen an und versuche Hintergründe zu den Arbeitsbedingungen zu erfahren. Bis zu 14 Stunden täglich und sechs Tage die Woche arbeiteten die Frauen damals in den Sälen und atmeten die Leinenflusen in der Luft ein. Knochenarbeit. Jurek stellt die Maschinen ab und empfiehlt mir die mehrstöckige Ausstellung von hier produzierten Industriestoffproben, polnischer Textilkunst sowie einer einmaligen Sammlung wertvoller Gobelins aus ganz Europa im Hauptgebäude. Ich habe Zeit und da mein Ticket für alle Gebäude der Fabrik gilt sage ich „Tak!“ und bedanke mich für seine geduldige Einführung in die Textilgeschichte. Naja, Polnisch ist halt nicht meine Muttersprache.
Und plötzlich sind sie wieder da, die Szenen aus dem Film „Ziemia obiecana“ („Das gelobte Land„) vom Regisseur Andrzej Wajda in meinem Kopf. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans des polnischen Literaturnobelpreisträgers Władysław Reymont. Die Geschichte, der aufstrebenden Textilindustriestadt Łódź am Ende des 19. Jahrhunderts – dem Manchester Polens – in welcher Polen, Deutsche und Juden zusammenlebten. Die dreier Freunde: Karol (Pole), Maks (Deutscher) sowie des Juden Moryc, welche beschließen eine Textilfabrik zu gründen.
Gedanklich in den Film versunken durchstreife ich die Textilkunstausstellung sowie die Sammlung der Gobelins. Beindruckend auf welchem internationalen Niveau hier die Sammlungen präsentiert werden. Ich kenne kein vergleichbares Museum für Textilgeschichte, wie die „Weiße Fabrik“ in Łódź. Wie ein Phönix aus der Asche, präsentiert diese Stadt hier ihre Identität im neuen „Gewand“. Ich könnte Stunden durch die Ausstellungen streifen und mich den satten Farben und Strukturen der Stoffe hingeben, doch die Frau der Museumsaufsicht tippt demonstrativ auf ihre Uhr am Handgelenk, um mir zu signalisieren, mich zum Ausgang zu bewegen. Ende der Öffnungszeiten. Draußen wird es schon dunkel und so fahre ich mit der scheppernden Straßenbahn zurück zur „Manufaktura“ und werde wohl den Tag mit ein paar Bahnen im Dachpool des Hotels mit Industriecharme ausklingen lassen.
Text: ZeitBlatt / Andre Biakowski
Photos: Wolfgang Straßer
Titelbild: HRS www.hrs.de