Helena Waldmann – „Der Eindringling – eine Autopsie“

Helena Waldmann – „Der Eindringling – eine Autopsie“

Helena Waldmann – „Der Eindringling – eine Autopsie“ – UA am 8. Juni 2019 am Theater im Pfalzbau Ludwigshafen – Deutschland-Tournee im Herbst 2019. Und wieder hat sie ein Thema gefunden, das sofort neugierig macht! Mit Der Eindringling – eine Autopsie lädt die Tanzregisseurin Helena Waldmann ein zu einem Blick unter die Haut, ins Innere des Körpers, zugleich ins Innere des Systems „Staat“.

Was dort eindringt, politisch wie medizinisch gesehen, nennen wir Fremdkörper (Bakterien, Viren, Parasiten, ein transplantiertes Organ) – oder Migranten, Flüchtlinge. Schließlich kann sich kein Körper vollständig von der Außenwelt abkapseln. Mehr noch: Die Medizin weiß, dass nur derjenige Organismus überlebt, der bereit ist, sich zu verändern …

Wie immer gelang Helena Waldmann das Kunststück, ein Produktionsensemble zusammenzustellen, das aus Performern mit ganz besonderen Talenten besteht. Das nötige Vorwissen eignete sie sich im Winter 2019 vor Ort an, bei einer Reise zu Tänzern und Choreographen am Institute for Dance und Performing Arts, West Kowloon Cultural District Authority, Hong Kong. Trotzdem glich das Casting eher der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Doch Waldmann hatte Glück und fand mit Ichiro Sugae, Tillmann Becker, Telmo Branco drei Tänzer, die Martial Arts beherrschen. Gemeinsam mit ihren Darstellern will sie das tun, was Autopsie wörtlich bedeutet – „selbst schauen“ – und damit den Beweis antreten, dass sich die Strategien der Kampfkunst und unseres eigenen Körpers verblüffend ähnlich sind: die Kraft des Gegners durch Einverleibung zu neutralisieren.

Momentan steckt Helena Waldmann mitten in der Kreation. Nach einer Einstiegsrunde im März geht es vom 6. bis 31. Mai weiter mit den Proben im AULA imMilchhof Berlin und mit den Endproben am Theater im Pfalzbau Ludwigshafen ab 3. Juni 2019.

Helena Waldmann
Der Eindringling – eine Autopsie

Matinee. Gesprächsrunde mit Helena Waldmann und Robert Montoto am Sonntag, 2. Juni 2019 um 11:00 Uhr,  Studio im Theater im Pfalzbau Ludwigshafen
Uraufführung am Pfingstsamstag, 8. Juni 2019 um 19:30 Uhr, Theater im Pfalzbau Ludwigshafen. Im Anschluss Künstlergespräch mit Helena Waldmann und Antje Landmann, DIE RHEINPFALZ.
Weitere Stationen 2019: Tanzfestival Theater in Bewegung im Theaterhaus Jena am 12. & 13. November 2019 / Forum Freies Theater Düsseldorf am 29. & 30. November 2019 / Tollhaus Karlsruhe am 3. Dezember 2019 / Stadttheater Aschaffenburg am 5. Dezember 2019 / Tafelhalle Nürnberg am 7. Dezember 2019

Mit Der Eindringling – eine Autopsie inszeniert Helena Waldmann auf der quasi mikroskopischen Ebene des Körpers die Makroskopie einer Politik. Politik legitimiert sich immer zuerst durch das Konstrukt eines geschlossenen Körpers, eines Volkes, einer Nation, eines Inlands und seiner Produkte. Gegenüber Eindringlingen, Angreifern oder Konkurrenten erzeugt sie eine „solidarische“ Geschlossenheit des eigenen Körpers.
Der Eindringling zeigt, dass Körper ebenso wie politische Konstrukte nur durch Öffnungen (Mund, Nase, Augen, Ohren, Poren etc.) zum Leben und Überleben fähig sind – und dass es weit mehr Erfolg verspricht, am Gegner zu wachsen, statt ihn zu vernichten. Tanz ist der physische Beweis dafür, dass Offenheit, Freiheit und Freizügigkeit der perfiden Logik der Geschlossenheit ideell wie ganz konkret überlegen sind. Zumal unsere irrational angsterfüllte Gesellschaft auf fast tragikomische Weise demonstriert, dass unser übersteigertes Bedürfnis nach Schutz in Wirklichkeit nur eine Konsequenz hat: uns schutzlos zu machen.
Wie immer vermittelt Helena Waldmann diese Botschaft durch die Choreographie – und wie immer nutzt sie dafür die sehr speziellen Fähigkeiten ihrer Performer. Nach dem Kathak-Tanz (Made in Bangladesh) und Akrobatik (Gute Pässe Schlechte Pässe) lässt sie sich diesmal von der chinesischen Kampfkunst Kung Fu inspirieren. Hier sind Angriff und Abwehr eins. Die Kraft des jeweiligen Gegners wird durch wendige Schritt- und Schlagtechniken neutralisiert und gegen den Angreifer gewendet.

Performer: Ichiro Sugae, Tillmann Becker, Telmo Branco
Konzept, Bühne & Tanzregie: Helena Waldmann
Video: Anna Saup
Musik: jayrope
Kostüm: Judith Adam
Licht: Herbert Cybulska
Kampfkunst-Coaching: Aljoscha Tursan
Technische Leitung: Carsten Wank
Tontechnik: Stephan Wöhrmann
Produktionsleitung: Claudia Bauer

Eine Produktion von
Helena Waldmann und ecotopia dance productions
in Koproduktion mit Pfalzbau Bühnen Ludwigshafen, Forum Freies Theater Düsseldorf, Tafelhalle Nürnberg, Tollhaus Karlsruhe
Die Matinee am 2. Juni 2019 wird gefördert von BASF (Kulturförderprogramm Tor 4).

Die Performer

Tillmann Becker. Geboren in Indonesien, startete er eine Karriere als Tänzer und Physiotherapeut am Ballett des Landestheater in Coburg. Weitere Engagements führten ihn zum Staatstheater Braunschweig, Theater Bielefeld, UnterwegsTheater Heidelberg und zum Ballett des Landestheaters Flensburg. Neben freien Projekten als Künstler und Dozent in Europa und China war er unter anderem in Werken von Marco Goecke, Roy Assaf, Amos Ben-Tal, Noa Shadur, Jeori Dubbe, Angelin Preljocaj, Gregor Zoellig, Henrietta Horn, Hans-Henning Paar, Jan Pusch und Katrín Hall zu sehen. Auch als Choreograph ist Tillmann Becker erfolgreich:  2012 gewann er den 2. Preis beim Internationalen Choreografie-Wettbewerb No Ballet in Ludwigshafen. Zwei Mal wurde er Halbfinalist beim „Internationalen Wettbewerb für Choreografen in Hannover“. 2019 erhält Tillmann Becker eine Künstlerische Residenz, gefördert durch das Choreographische Zentrum Heidelberg für die Umsetzung einer neuen Tanzproduktion.

Telmo Branco. Der gebürtige Portugiese ist ein interdisziplinärer Performer, der in den Bereichen Schauspiel, Gesang, Körpertheater und zeitgenössischer Tanz ausgebildet wurde. Neben der Entwicklung eigener Stücke kollaborierte er mit Künstlern aus verschiedenen Kunstsparten, darunter Nir de Wolf, Alexandra Piric, Falk Richter, Shang-Chi Sun, Ximo Flores und Alvaro Correia. Telmo Branco lebt zur Zeit in Berlin.

Ichiro Sugae stammt aus Japan. Er erhielt seine Ausbildung an der Musashino Art University in Kodaira / Tokio. Als Tänzer und Performer arbeitete er unter anderem mit Angelica Liddell, Rui Horta, Jo Kanamori, Saar Magal, Yoshifumi Inao, Yuki Yamada, Satoshi Kudo (Eastman), Shintaro Hirahara, Heine Avdal & Yukiko Shinozaki, Takashi Murakami, Dennis Gansel, Shangchi Sun und Jara Serrano.

Der Kampfkunst-Coach

Aljoscha Tursan wurde in Italien geboren und zog im Alter von vier Jahren mit seiner Familie nach München. Er studierte klassisches Ballett an der Heinz-Bosl Stiftung in München und an der Staatlichen Ballettschule in Berlin. Engagements als Tänzer führten ihn an verschiedene deutsche Stadttheater. Es folgten Ausbildungen im Kampfsport, zunächst im klassischen Stil Siak Lak Hang und später in Wing Tsun Kuen.

Über Helena Waldmann

Helena Waldmann ist seit 1989 freischaffende Tanzregisseurin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. Zwischen 1993 und 1999 verdrehte sie Bühnenperspektiven, mauerte die Vierte Wand zu, inszenierte das Theater wie einen Film und feierte mit diesen radikalen Stücken internationale Erfolge. Ihre Choreographien entstehen und touren weltweit. Die Themen reichten von der erschreckend anarchischen Freiheit der Demenz (revolver besorgen) und vom lustvollen Spiel mit Abhängigkeiten (BurkaBondage) bis zum anarchischen Fest gegen die Arbeitsdiktatur der Leistungsgesellschaft (feierabend! – das gegengift). Waldmanns Stücke entstehen in Dhaka, Tokyo, Kabul, aber auch in Teheran, wo sie äußerlich eingeschränkte, dafür um so souveränere Frauen in islamischen Staaten feiert (Letters from Tentland) und die Antworten auf die europäische Asylpolitik durch iranischen Exilantinnen inszeniert (return to sender – Letters from Tentland). Sie arbeitete in Ramallah mit Menschen, die tanzen müssen, um unter den Umständen der Blockade nicht verrückt zu werden (emotional rescue) und in Salvador de Bahia, wo sie für ihre von Fremdbestimmung gefangenen Wesen (Headhunters) den Theaterpreis der UNESCO erhielt. Zu Waldmanns bislang größten Erfolgen zählt Made in Bangladesh, mit dem sie die harten Lebenswelten der Näherinnen in Südasien auf die Bühne brachte und kühne Parallelen zum Tänzerprekariat in der westlichen Welt zog. Sie erzeugte damit nicht nur ein gewaltiges Echo beim Publikum und in den internationalen Feuilletons, sondern wurde auch für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2015 nominiert.
Wenn man ihre überaus vielfältige Arbeit überhaupt auf einen Nenner bringen kann, dann auf diesen: die Überwindung von Grenzen. Auch Waldmanns letzte ProduktionGute Pässe Schlechte Pässe von 2017 kreiste um dieses Lebensthema, aufs Anschaulichste verkörpert von einem Ensemble aus Akrobaten und zeitgenössischen Tänzern. Momentan arbeitet Waldmann am nächsten Level: Schließlich verlagert die bevorstehende Uraufführung Der Eindringling – eine Autopsie die Dialektik von Abgrenzung und Öffnung ins tiefste Innere – den Organismus selbst.
Im gerade zu Ende gegangenen Wintersemester 2018/19 war Helena Waldmann Bertolt-Brecht-Gastprofessorin der Stadt Leipzig am Centre of Competence for Theatre der Universität Leipzig.