„Und laßt uns nun die Reis antreten“
Die Berliner Uraufführung des Jedermann von Hugo von Hofmannsthal im Zirkus Schumann in Berlin am 1. Dezember 1911 polarisierte sowohl Publikum als auch Kritik. Der Journalist Siegfried Jacobsohn etwa seufzte: „Hätte er sich nur auch das richtige Publikum gesucht und es in das richtige Haus gesetzt!“ Am 22. August 1920 wurde sein Wunsch erhört. Mit dem Transfer des Jedermann von Berlin nach Salzburg, vom Zirkus auf den Domplatz, fand die Inszenierung von Max Reinhardt ihre Bestimmung.
„So stellten wir ein einfaches Brett vor dem Dom auf und spielten auf ihm, ohne alle Requisiten, im vollen Licht des Tages. Ohne die Hilfe der Dunkelheit, in der man Lichteffekte erzeugen und die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf jeden beliebigen Punkt konzentrieren kann, spielen wir dieses Spiel, in dem Begriffe personifiziert werden. Begriffe wie der Glaube, die guten Werke, das Geld. Die Zufälligkeiten des Tages, der Flug der Tauben, das Gewitterige der Atmosphäre schieben sich in unser Spiel und verleihen ihm einen eigenartigen immer wechselnden Zauber. Das Brett, die Bühne, auf der wir spielen, wird losgelöst von allen andern – der Zuschauer führt wirklich selbst jene Konzentrierung im vollen Licht des Tages durch, die wir von ihm verlangen und die ihm durch Jahrhunderte verloren gegangen war“, beschrieb Max Reinhardt seine Anfänge auf dem Domplatz.
Nach über 650 Vorstellungen in einem knappen Jahrhundert ist der Jedermann zentraler Bestandteil der DNA der Salzburger Festspiele und schreibt seine Historie in einem fort, ein singulärer Vorgang im deutschsprachigen Theater.
Konzipiert als Wiederbelebung einer mittelalterlichen Moralität nach dem Vorbild des englischen Everyman, angereichert durch Hecastus von Hans Sachs und anderen Quellen, schreibt Hofmannsthal über Jahre in einem Europa der kulminierenden Konflikte an seinem Jedermann. Im Kopf immer eine mögliche Umsetzung durch Max Reinhardt: „Trug man, mit vergehenden Jahren, das Wesentliche dieses dramatischen Gebildes stets in sich, zumindest im Unterbewusstsein, so regte sich allmählich Lust und Freiheit, mit dem Stoff willkürlich zu verfahren. Sein eigentlicher Kern offenbarte sich immer mehr als menschlich absolut, keiner bestimmten Zeit angehörig, nicht einmal mit dem christlichen Dogma unlöslich verbunden; nur dass dem Menschen ein unbedingtes Streben nach dem Höheren, Höchsten dann entscheidend zu Hilfe kommen muss, wenn sich alle irdischen Treu- und Besitzverhältnisse als scheinhaft und löslich erweisen, ist hier in allegorisch-dramatische Form gebracht, und was gäbe es Näheres auch für uns?“
Das Wagnis, das Hofmannsthal hier explizit beschreibt, frei mit dem Stoff zu verfahren und seine thematische Rückführung auf einen Kern, der weder zeitlich noch dogmatisch gebunden ist, bildet das ideologische Kraftzentrum des Jedermann. Diese Keimzelle macht es möglich, die Allegorien des Jedermann künstlerisch immer wieder neu zu fassen und zu interpretieren. Gleichzeitig birgt sie Chance und Aufforderung, sich den zentralen Fragen des Spiels vom Sterben des reichen Mannes aus dem jeweiligen historischen Blickwinkel zu stellen.
Generationen von Zuschauern haben den Jedermann in der Übung der Ars moriendi beobachtet, die Buhlschaft in der Ars vivendi. Mammon, Teufel, Werke, Glaube, Gott und Tod entstammen einem Denken, das die gesellschaftliche Hierarchie zementiert hat. Durch die allmähliche Lösung dieser Fesseln hat sich das Jedermann-Personal ebenso gewandelt wie unser Verhältnis zu ihm. Geblieben ist ein Akt der Empathie, ein Aufruf zur Wachsamkeit, eine Reflexion über Zugehörigkeiten, die Frage nach der grundsätzlichen Standortbestimmung. So muss jede Gegenwart ihren Jedermann finden, gleichsam herausleuchten aus dem Zeitenlauf.