Im vergangenen Frühjahr legte Eva Baumann den ersten Teil ihrer choreographischen Trilogie ZEIT/GEIST vor. Schon im Titel alieNation oder: Strangers in a world that they themselves have made enthalten, war das Thema jenes Stücks – die Entfremdung von der Natur, von unserem eigenen Körper in einer technisierten, ja zunehmend virtuellen Welt. Nun folgt der zweite Teil Nadezhda, der sich einem ganz anderen Aspekt des Zeitgeists in den neuen 20-er Jahren widmet, der Angst nicht vor dem Fremden in uns selbst, sondern vor den Fremden – und vor dem Verlust des Eigenen.
Die Inspiration für Nadezhda lieferten die Familiengeschichten der Choreographin, der Szenographin Katrin Wittig sowie Bar Gonen, einer der drei Tänzerinnen des Teams. Eva Baumanns Großmutter flüchtete als sogenannte „Schwarzmeerdeutsche“ aus Odessa 1944 vor der anrückenden russischen Armee. Als „Vertriebene“ musste sie sich zunächst noch im deutschen Reich, nach 1945 in der Bundesrepublik ein neues Leben aufbauen. Katrin Wittigs Familie stammte aus dem böhmischen Brüx im heutigen Tschechien. Bar Gonens Vorfahren lebten in Galați im östlichen Rumänien und emigrierten über Zypern nach Israel.
Die konkreten Biographien bilden jedoch nur den Ausgangspunkt für eine sehr viel tiefergehende, symbolischere Beschäftigung mit der Geschichte von Migration und Vertreibung und ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart. In den Mittelpunkt ihrer choreographischen Recherche stellt Eva Baumann entsprechend die Psychologie des Fremd-Seins, aber auch die Hoffnung, in der Fremde anzukommen und sich einzurichten, erzählt durch den Tanz und mit den Mitteln des Figuren- und Objekttheaters. Masken, Gliederpuppen, geerbte Artefakte und Requisiten-Fundstücke erzeugen poetisch-surreale Bilderwelten und schaffen einen offenen Raum für Reflexion, Assoziationen und Emotionen.
Eva Baumann _ Cie. ZEIT/GEIST
Nadezhda_ ein figurales Tanztheaterstück über den Verlust des Eigenen und die Hoffnung
FITZ – Das Theater animierter Formen Stuttgart
Uraufführung am Donnerstag, 18. April 2024 um 20:00 Uhr
weitere Aufführungen: Freitag, 19. April 2024 um 20:00 Uhr / Samstag, 20. April 2024 um 20:00 / Sonntag, 21. April 2024 um 16:00 Uhr
sowie am 30. Juni 2024 im Rahmen von „Figure it Out!“ – Treffen und Showcase für zeitgenössisches Figuren- und Objekttheater
Künstlerische Gesamtleitung, Recherche & Choreographie: Eva Baumann
Tanz & Figurenspiel: Eva Baumann, Bar Gonen, Aurora Bonetti
Musik & Sound-Bearbeitung: Roderik Vanderstraeten
Recherche, Objekte, Kostümbild: Katrin Wittig
Figurenbau: Verena Waldmüller
Bühne: Eva Baumann, Katrin Wittig
Licht & Technik: Ingo Jooß
Coaching Figurenspiel, Outside Eye: Julika Mayer
Drei Jahre, drei Stücke, dreimal Zeitgeist: In ihrer choreographischen Trilogie ZEIT/GEIST begibt sich Eva Baumann, wie sie schreibt, „auf Entdeckungsreise nach dem Fremden im Eigenen“. Seit 2022 arbeitet sie an der Konzeption, komplett wird die Reihe zum Sommer 2025 sein – mit dann drei Produktionen, die sich dem disparaten Lebensgefühl unserer Gegenwart aus drei ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähern. Den Auftakt markierte im März 2023 alieNation oder: Strangers in a world that they themselves have made in einem dramaturgisch ideal passenden Uraufführungsort, dem FITZ – Das Theater animierter Formen Stuttgart, in dem nun auch Nadezhda herauskommen wird. Während sich alieNation mit unserem entfremdeten Leben in der modernen Welt befasste, erweitert Nadezhda nun das den Blick um eine historisch-
Eva Baumann hat dafür einen klugen, geradezu dialektischen Twist gefunden. Schließlich empfinden wir das Fremdsein in beide Richtungen. Ausgehend von der Geschichte ihrer eigenen Familie und den Familien der Szenographin Katrin Wittig und der Tänzerin Bar Gonen, erzählt sie einerseits von Verlusterfahrungen von Vertriebenen und der Schwierigkeit des Ankommens in der vorgeblich neuen Heimat. Der Titel des Stücks bezieht sich auf den zunächst vermuteten Namen des Heimatdorfs ihrer Großmutter Frieda, einer „Schwarzmeerdeutschen“ aus der Nähe von Odessa. Die russisch-ukrainische Übersetzung von „Nadezhda“ ist Hoffnung. Und die konnte die 17-jährige Frieda wahrlich gebrauchen, als sie 1944 mit ihrer Familie vor der russischen Armee floh …
Dass die Verarbeitung von Flucht und Migration nicht mit der eigenen Biographie endet, wissen wir mittlerweile aus vielen wissenschaftlichen Untersuchungen. Erinnerungen werden ebenso wie familiäre Tabuthemen weitergegeben an die nächste, ja sogar übernächste Generation. Genau hier setzt Eva Baumann an: Wie wird die existenzielle Erfahrung der verlorenen Heimat innerhalb einer Familie tradiert? Wie schreibt sie sich ein in das Gedächtnis und die Körper der nachfolgenden Generationen? Und wie wirkt sich die familiäre Überlieferung aus auf die Wahrnehmung von Flucht und Migration im Hier und Heute?
Damit dürfte klar sein: Nicht nur der Stoff des Stücks ist komplex. Die Bildsprache und Körperlichkeit, die sicherlich beim Publikum verschiedene Emotionen auslösen werden, sind es nicht minder. Eva Baumann nimmt die künstlerische Herausforderung an. Mittels Masken, Puppen, gefundenen Artefakten und echten Erbstücken schafft Nadezdha einen sinnlichen Resonanzraum für ein gleichermaßen historisches wie aktuell brisantes Thema. Das eigentliche Ziel des Stücks ist noch ambitionierter: Mut zur Selbsterkenntnis und Heilung. Denkbar groß ist auch die Zielgruppe der Produktion. Schließlich ist der Wunsch, sich Zuhause und zugehörig zu fühlen nichts weniger als ein universelles, ein existentielles Bedürfnis.
Nadezhda ist eine Produktion der Cie. ZEIT/GEIST in Koproduktion mit dem FITZ – Das Theater animierter Formen Stuttgart. Gefördert vom Kulturamt der Stadt Stuttgart im Rahmen einer Konzeptionsförderung und von der Freien Tanz- und Theaterszene Stuttgart gUG. Die Recherchephase wurde gefördert mit dem flausen+ Einzelstipendium vom Fonds Darstellende Künste im Rahmen von #TakeCare sowie von NPN/Joint Adventures im Programm Stepping Out für die Konzeption der Trilogie ZEIT/GEIST. Beide Programme wurden gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen der Initiative NEUSTART Kultur. Hilfsprogramm Tanz.
Nadezhda wurde außerdem im Rahmen der Percolate Residency 2023 von Dance Limerick, Irland, unterstützt. Mit freundlicher Unterstützung vom Produktionszentrum Tanz und Performance Stuttgart sowie den Uferstudios Berlin.
Über Eva Baumann
Seit 2012 initiiert und produziert die „Tänzerchoreographin“ (Baumann über Baumann) Projekte in ihrer künstlerischen Heimat Stuttgart. Die Grenzgängerin zwischen Tanztheater, Performance, Installation und Screen Dance kollaboriert mit Künstler*innen und Expert*innen verschiedener Disziplinen und Fachgebiete. Ihr besonderes Interesse gilt den gesellschaftlichen „Nischenthemen“. Der Körper und seine Ausdrucksformen sowie der Umgang mit Räumen – realen wie gedanklichen – ziehen sich als roter Faden durch ihre Arbeit.
Eva Baumann inszeniert für Theaterräume, museale Räume und site-specific. Häufig stellen ihre Arbeiten den Einzelnen und die Gesellschaft, Vergangenheit und Gegenwart einander gegenüber. Ihre Trilogie herstory von 2017 bis 2019 griff feministische Diskurse auf und holte Leben und Werk vergessener Künstlerinnen ins Rampenlicht. Ihre Produktionen wurden und werden international auf zahlreichen Festivals, in Theatern und in Galerien gezeigt.
Eva Baumann war unter anderem Stipendiatin der Kunststiftung Baden-Württemberg, Residenzkünstlerin am Bauhaus in Dessau, 2021 und 2023 Residenzkünstlerin bei Dance Limerick in Irland. 2024 ist sie Stipendiatin im Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop an der Ostsee. Seit Juli 2022 firmiert sie unter Cie. ZEIT/GEIST. Für ihr gleichnamiges Projekt ZEIT/GEIST erhält sie von 2022 bis 2024/25 die dreijährige Konzeptionsförderung der Stadt Stuttgart.
Mehr unter: www.evabaumann.art
Pressefotos
Probenfotos Nadezhda
Foto-Credit 1 bis 4: Eva Baumann
Motiv 3: Bar Gonen (Tanz)
Foto-Credit 5: Doris Schopf
Porträt Eva Baumann privat