Mascha (Aylin Tezel) ist wild und laut, kompromisslos und schlagfertig, doch im Grunde ihres Herzens orientierungslos. Die angehende Dolmetscherin ist Kosmopolitin, spricht fünf Sprachen fließend, nur über ihre eigene Geschichte, die Geflüchtete in ihr, spricht sie nie. Ihr Freundeskreis ist multikulturell, feiert ordentlich und kontert den allgegenwärtigen Alltagsrassismus mit böser Ironie. Mascha liebt ohne Rücksicht auf Verluste – ihre Sprachen, ihre Freunde und vor allem Elias.
Gerade erst ist Mascha mit ihrem Freund zusammengezogen, als dieser durch eine zunächst harmlose Sportverletzung zum Pflegefall wird. Immer mehr gerät Maschas Leben aus den Fugen. Elias‘ unerwarteter Tod stürzt sie in eine Krise. Sie tritt die Flucht nach vorne an und setzt sich, mit nichts als ihrem Pass, in ein Flugzeug Richtung Israel. Dort tut sie das, was sie am besten kann: sie stürzt sich mit voller Wucht in ein neues Leben, findet eine neue Liebe und muss schließlich erkennen, dass man nicht für immer vor sich davonrennen kann.
Regisseurin Pola Beck (AM HIMMEL DER TAG) zeichnet in DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT das Bild einer jungen, selbstbewussten Frau, die modern und emanzipiert ihren Weg zu gehen versucht und trotz all‘ ihres an den Tag gelegten Selbstbewusstseins immer wieder von der eigene Flüchtlingsvergangenheit und der familiären Tragödie eingeholt wird. So feinfühlig wie kunstvoll verweben Burkhardt Wunderlich, der das Drehbuch verfasst hat und Pola Beck die großen Themen Trauma- und Trauer-Bewältigung, Flucht vor der eigenen Vergangenheit, Selbstbestimmung und Identitätssuche und zeichnen so das kosmopolitische Leben junger Menschen mit ausländischen Wurzeln nach, jenseits der üblichen Rollenklischees.
DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT basiert auf der gleichnamigen Romanvorlage von Olga Grjasnowa. Mit Aylin Tezel, gleichermaßen die erklärte Wunschbesetzung von Regie und Autorin, ist eine weitere starke Frau zu dem Filmprojekt dazu gestoßen, die der Rolle der Mascha große Authentizität und Wucht verleiht. Für das Widerspiel von Nähe und Distanz in Maschas Charakter und ihre rastlose Suche findet Kameramann Juan
Sarmiento, der mit Pola Beck ein eingespieltes Regie-Kamera-Duo bildet, immer neue Einstellungen.
REGIE-KOMMENTAR POLA BECK
DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT
FESTIVAL
Als ich die letzten Seiten des Buchs DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT von Olga Grjasnowa zu Ende las, wurde mir klar, welchen Schatz ich hier in den Händen hielt. Ich war zutiefst angetan von der Wucht, der Selbstverständlichkeit und dem Humor, mit dem hier von dieser jungen, vielschichtigen Frau und ihren Freunden erzählt wird und dachte: Das muss ein Film werden, egal wie.
Unkonventionell, selbstironisch, zärtlich. Ein Stoff, der viele Themen in sich birgt und dessen filmischer Herausforderung ich mir sehr bewusst bin. Es ist die Geschichte der jungen Mascha, die ihre Flüchtlingsvergangenheit aus ihrem Leben verbannt hat. Zu Beginn fühltsie sich bei ihrem deutschen Freund Eliaszuhause und seine Liebe gibt ihr Vertrauen in die Zukunft. Doch diese Zukunft ist eine hermetisch abgeriegelte Verdrängungsblase mit Waschmaschine und Zweiraumwohnung. Irgendetwas stimmt nicht. Und als sich Mascha plötzlich um ihren kranken Freund kümmern muss, der unselbstständig wird und immer mehr »zerfällt«,zerfällt auch Maschas Halt im Leben. Mit einem Mal weiß sie nicht mehr, wohin sie gehört. Mitseinem Tod verfälltsie in eine tiefe Identitätskrise. Ihre Fluchtgeschichte wiederholtsich und sie stürzt sich in neue Lieben und in ein neues Leben. In Israel versucht sie, einen Teil ihrer jüdischen Identität zu leben, doch hier wird sie erst recht gezwungen, sich endlich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen.
Mascha fasziniert mich, weil sie so vielfältig lieben kann und sie sich in ihrer Hingabe zu anderen Menschen zu retten versucht. Sie ist Kosmopolitin und sucht ihre Heimat in den Menschen, die sie trifft und lieben lernt. Ihr Fortgehen war nötig, um zu begreifen, dass die Menschen und der Ort, den sie verlassen hat, ihr auch ohne Elias ein Zuhause geben können – wenn sie es zulässt. Für Mascha wird es niemals nur eine Heimat geben.
DER RUSSE IST EINER, DER BIRKEN LIEBT ist ein tragikomischer Beziehungsfilm um eine junge, quer verwurzelte Frau auf der Suche nach einem Platz im Leben. Was die Geschichte besonders macht, ist ihre ungewöhnliche Hauptfigur. Mascha ist einfach eine Wucht. Eine junge Frau, die intensiv liebt und leidet, die den Mund aufmacht, laut ist und einen dreckigen Humor hat, obwohl und gerade, weil sie sich ihrer »Migrationsrolle« bewusst ist. Sprache ist ihre Macht. Wenn Elias stirbt, verstummt sie für einen Moment und kämpft sich dann zurück ins Leben. Konsequent aus der weiblichen Perspektive erzählt, wollte ich einen Film machen, der von Liebe
und Trauerbewältigung erzählt und mit seinem lakonischen, womöglich bisweilen dreckigen Humor das Spiel mit Klischeeszum Thema Migration bewusst auf die Spitze treibt – flankiert von der ganzenTragik, die der Stoff mit sich bringt. Die non-lineare, elliptische Erzählweise war eine bewusste Entscheidung, um die Geschichte kraftvoll zu erzählen und Maschas langer Trauerphase entgegenzuwirken. Die Figuren brauchen eine Rauheit und Kompromisslosigkeit, wie man sie z.B. in den Filmen von Fatih Akin, allen voran in »Gegen die Wand« vorfindet. Immer an der Grenze zum moralisch Anfechtbaren. Mit Mut zur Derbheit, z.B. im Umgang mit dem Thema Tod, wie man es sonst nur aus Kusturica-Filmen kennt. Es war mir wichtig, über ein Lebensgefühl von jungen Menschen mit ausländischen Wurzeln in Deutschland zu erzählen, jenseits der für Film und Fernsehen typischen Rollenklischees.
In einem kosmopolitischen Berlin geboren, bin ich umgeben von Menschen mit familiär komplexen Hintergründen. Doch spüre ich ihre Abgrenzung von der »Elternkultur«. Für sie sind die alten ethnischen oder religiösen Identifikationen kein wirkliches Thema mehr. Deshalb möchte ich von einer Generation erzählen, die mit ihren multiethnischen Wurzeln denken und fühlen wie ihre „ganz“ deutschen Freunde und ebenso selbstverständlich ein kosmopolitisches Bewusstsein haben. Essind Menschen, die sich ihre Frage nach Heimat neu stellen müssen – in Zeiten der Globalisierung und gleichzeitig wachsender Feindseligkeit. Das macht für mich auch die politische Ebene des Films aus.
Mit Olga Grjasnowa, der Autorin der Romanvorlage, stand ich in engem, vertrauensvollem Kontakt. Sie ließ mir freie Hand, Figuren und Handlungsteile aus dem Buch zu verändern oder wegzulassen und aus dem Roman einen Film zu machen, den ich machen möchte. Und mit Aylin Tezel in der Hauptrolle als »Mascha Kogan« an meiner Seite, hoffe ich an die filmische Intensität unseres gemeinsamen Films AM HIMMEL DER TAG anzuknüpfen.
POLA BECK
Ein Film von Pola Beck
Mit Aylin Tezel, Sohel Altan Gol, Slavko Popadic,
Yuval Scharf, Bardo Böhlefeld u.v.a.
Produziert von augenschein Filmproduktion,
koproduziert von ZDF / Das kleine Fernsehspiel in Zusammenarbeit mit ARTE,
gefördert durch die Film- und Medienstiftung NRW, das Medienboard Berlin-Brandenburg, den
Deutschen Filmförderfonds und Creative Europe Media.
PHOTOS: © FILMFEST MÜNCHEN 2022