„Das Beste der Musik steht nicht in den Noten.“ Kurt Redel hielt es mit Gustav Mahler, seinerseits – auch – ein begeisterter Bearbeiter. Das Pro Arte Orchester verdankt seine Berühmtheit neben Redels faszinierenden Interpretationen vor allem auch dessen Bearbeitungen meistens bekannter Musikstücke, die er in seinem Sinne umformte. Das Programm des heutigen Abends umfasst daher die Highlights des Pro Arte Orchesters, wie sie in der Salle Pleyel in Paris in den 70-er Jahren erklangen.
Original gespielt wird das Violinkonzert von Johann Sebastian Bach in E BWV 1042, es ist (wie das Violinkonzert a-moll) vermutlich um 1720 in seiner Zeit als Kapell- und Konzertmeister (!) in Köthen entstanden. Obwohl Bachs Orgelwerke mehr Anklang fanden, komponierte er hier auch die 6 Sonaten und Partiten für Violine solo und die 6 Suiten für Violoncello, befasste sich also intensivst mit den Möglichkeiten der „modernen“ Streichinstrumente. Vorbild waren die Violinkonzerte Antonio Vivaldis, die er schon seit seiner Zeit in Weimar für sich abschrieb und zum Teil auch bearbeitete. Beide Konzerte wurden zunächst wohl selten aufgeführt und von Bach selbst zu Cembalokonzerten umgearbeitet (BWV 1054 und 1058). Wie viele seiner Kompositionen gerieten sie in Vergessenheit und wurden von Karl Friedrich Zelter 1812 für die Berliner Singakademie wiederentdeckt. Die berühmten Geiger Joseph Joachim und Leopold Auer kannten das E-Dur Konzert immerhin. Zum allgemeinen Violin-Repertoire gehört es erst seit Eugène Ysaÿes bahnbrechender Aufführung 1899. Dabei gehört vor allem der langsame Satz zu dem Berührendsten, was wir von Bach kennen.
Die VI Concerto a Flauto Traverso op.10 von Antonio Vivaldi 1728 sind tatsächlich für Streichorchester und Querflöte komponiert, obwohl Vivaldi bis dahin für seine Violinkonzerte, vor allem für die Sammlung der Quattro Stagioni op.8 berühmt geworden war. Die Anregung, auch für Flöte zu komponieren, erhielt Vivaldi vermutlich von einem Besuch des Flötisten Johann Joachim Quantz in Venedig. Das Ospedale della Pietà, an dem Vivaldi unterrichtete (ursprünglich ein Waisenhaus, das sich aber im Lauf der Zeit zu einem Seminar für Musikerinnen entwickelt hatte), genoss ja einen hervorragenden Ruf und lockte Musikreisende aus ganz Europa an, die von dem modernen Konzept einer professionellen Berufsausbildung für junge Frauen fasziniert waren.
Das zweite Konzert der Sammlung, La Notte, entspricht überraschenderweise nicht dem von Vivaldi selbst entwickelten italienischen Konzerttypus mit der Satzfolge schnell-langsam-schnell, sondern dem einer Suite mit mehreren Sätzen: Largo, Presto Fantasmi, Largo, Presto, Largo Il Sonno, Allegro und lässt dem Hörer Raum für freie Assoziationen bezüglich der Ereignisse dieser Nacht.
An vielen Stellen sind Aufführungshinweise für die Spieler genau notiert, zu dem zentralen Satz Il sonno (Schlaf oder eher Traum?) schrieb sich Redel in die Noten: „Flöte fantasiert“… Ein weiteres fantastisches Flötensolo begegnet uns in der Pariser Fassung von Christoph Willibald Glucks Orphée et Euridice. 1762 hatte Gluck in Wien seine Reformoper Orfeo ed Euridice uraufgeführt, die einen Gegenentwurf zu der inzwischen verknöcherten, von den komplizierten schematischen Libretti Pietro Metastasios geprägten Barockoper vorstellen sollte.
Der Reigen seliger Geister gegen Ende des 2. Aktes steht am Höhepunkt der Handlung: Gleich darauf erblickt Orfeo tatsächlich Euridice, die zu finden er ins Totenreich hinabgestiegen ist. Für die Aufführungen in Paris musste Gluck vor allem die Balletszenen erweitern, er fügte vor den Reigen seinen Furientanz aus Don Juan ein und komponierte als 3. Ballettnummer ein Solo für Flöte, die eine wie improvisiert wirkende Melodie bläst, wie geschaffen für einen Zauberer der Flöte wie Redel einer war. Sie wird nur begleitet von den zwei Violinen, die Violen spielen gemeinsam mit den Bässen.
Das Divertimento in C KV 157 gehört zu einer Serie von 6 Streichquartetten, die Wolfgang Amadeus Mozart 1772/73 während seiner dritten italienischen Reise schrieb, wie sein Vater Leopold berichtet. Etwas später bot dieser sie dem Verleger Breitkopf an, zur Auswahl mit „Klaviersachen, oder Trio mit 2 Violinen und einem Violoncello, oder quartetten, das ist mit 2 Violinen, einer Viola und Violoncello, oder Sinfonien mit 2 Violinen, Viola, 2 Corni 2 Houtbois oder Zwerchflauten und Baßo… alles wird er machen, wenn es sie nur bald melden“. Leopold war zweifellos sehr bemüht, seinen Sohn voranzubringen. Einige der Quartette werden in dem KV von 1964 auch als „Divertimento“ klassifiziert, da Mozart in den Stimmen zum Teil „Viole“ notiert hat und bei den „echten“ Divertimenti KV 136-138 eine chorische Aufführung unter Verwendung eines zusätzlichen Kontrabasses noch üblich gewesen sein mag. In der Frühzeit des gerade erst als Gattung entstehenden Streichquartetts war die Abgrenzung zur Verwendung als Sinfonie unter Umständen noch fließend. Sammartini schrieb „Quartett-Sinfonien“ und umgekehrt konnten Bläserstimmen nur „ad libitum“ vorgesehen sein, so dass notfalls auch ein Streichquartett zur Aufführung genügte.
Dementsprechend gab der Schott Verlag das Quartett KV 157 kurzerhand als Divertimento für Streichorchester heraus, was Redel gerne zum Anlass nahm, es auch aufzuführen, ist es doch laut Alfred Einstein das „weitaus bedeutendste“ Werk dieser Reihe. Der italienische Komponist Luigi Boccherini hätte sich sicher sehr gewundert, welches seiner Werke einstmals am bekanntesten sein würde – das Menuett in A aus dem Streichquintett in E-Dur op.11/5. Dabei hat er doch eine Fülle von Werken aller Gattungen hinterlassen und auf dem Gebiet der Kammermusik, aber auch der Literatur für Violoncello Bahnbrechendes geleistet. Selber Cellist, schrieb er Sonaten und Konzerte für sein Instrument, die einen weiteren Schritt hin zu der Virtuosität der Cellokonzerte von Joseph Haydn darstellen. Er gründete das vermutlich erste Streichquartett mit fester Besetzung und schrieb die ersten Streichtrios und -quintette, meistens in der später selteneren Besetzung mit zwei Celli.
1884 arrangierte der Violinvirtuose Henri Marteau das Menuett für Violine und Klavier, so dass es um die Jahrhundertwende (allenfalls zusammen mit dem Cellokonzert in B-Dur in einer stark umgearbeiteten Fassung durch den Cellisten Friedrich Grützmacher) das einzige bekannte Werk Boccherinis war. Dabei ist es auch fast geblieben. Es existieren inzwischen exotische Arrangements für 5 Akkordeons oder 4 Saxofone… „Musik lebt von Kontrasten“ war ein weiteres Motto Kurt Redels und so gehörten auch die Rumänischen Volkstänze von Béla Bartók zu seinen Programmen.
Der ungarische Komponist und Musikethnologe Béla Bartók bewunderte zunächst wie die meisten jungen Komponisten Richard Wagner und Richard Strauss, als Ungar befasste er sich auch mit Franz Liszt und erkannte dabei sehr bald, „dass die irrtümlicherweise als Volkslieder bekannten ungarischen Weisen – die in Wirklichkeit mehr oder weniger triviale volkstümliche Kunstlieder sind – wenig Interesse bieten, so dass ich mich im Jahr 1905 der Erforschung der bis dahin schlechtweg unbekannten ungarischen Bauernmusik zuwandte…“ Später erstreckten sich seine
Forschungen auch auf die Sprachgebiete der Slowaken und vor allem der Rumänen, deren Liedmaterial er in 3 Bänden mit über 1000 (von 3500 gesammelten) Beispielen veröffentlichte. Bartók verfolgte einen verblüffend modernen Ansatz, er zeichnete alle Melodien mit einem Phonographen auf, ordnete sie nach Anlässen und versuchte dann innerhalb der Gruppen, melodische Grundtypen zu finden, indem er sie zunächst auf einen gemeinsamen Grundton brachte.
Zusätzlich sammelte er eine Fülle von Zusatzinformationen über Aufführungstechniken, Verzierungen und Instrumentarium und beschrieb die zugehörigen Tänze. 7 dieser Tanzmelodien stellte er zu einer Folge zusammen und gab sie 1915 für Klavier heraus, 1917 versuchte er in einer Transkription für ein kleines Orchester aus Bläsern und Streichern den volkstümlichen Originalklang nachzuempfinden. Eine weitergehende Bearbeitung stellt die Fassung für Violine und Klavier von Zoltán Székely dar, die der Geiger Joseph Szigeti mit Bartók selber am Klavier für die Columbia Gramophone einspielte. Der Komponist Arthur Willner erstellte 1929 die Partitur für Streichorchester. Er behält die ursprüngliche Anordnung und Tonart der Tänze bei, weist aber der 1. Violine durchgehend den Solopart zu.
Traditionell beinhaltete ein Konzert des Pro Arte Orchesters auch (mindestens) ein Solostück des Konzertmeisters, das konnte eines der Violinkonzerte von J. S. Bach oder W. A. Mozart sein, das A-Dur Rondo von Franz Schubert oder auch die Romanze in G-Dur op.26 von Johan Svendsen. Der norwegische Komponist und Dirigent studierte zunächst Violine bei Ferdinand David am Konservatorium in Leipzig, aber auch Komposition bei Ernst Friedrich Richter und Carl Reinecke. In der Folge unternahm er große Reisen, lernte in Bayreuth Richard Wagner kennen und wurde 1872 zusammen mit Edvard Grieg Dirigent in Christiania (dem heutigen Oslo). Der Legende nach entstand die Romanze in Oslo in der Musikalienhandlung seines Verlegers Warmuth, in der er auch unterrichtete. Als eines Tages der nächste Schüler fernblieb, nutzte er die freie Zeit und schrieb die Romanze beinahe in einem Zug nieder.
Zum Glück, denn sie wurde sein bekanntestes Werk und erlebte 68 Auflagen. Komponiert für für Violine und Orchester, gab sie Svendsen auch für Violine und Klavier heraus.
Ein typisches Beispiel für die Weiterentwicklung eines Musikstücks ist die Fassung des PachelbelKanons von Kurt Redel. Johann Pachelbel, Nürnberger Organist und einer der Wegbereiter Bachs, schrieb einen strengen Oberstimmen-Kanon für 3 Violinen über einen ostinaten 8-tönigen Bass, der so bekannt wurde, dass er heute als Pachelbel-Schema einen eigenen Namen trägt. Die Violinstimme ist so konzipiert, dass sich der Gesamteindruck bei jedem Bass-Durchgang effektvoll steigert. Redel überhöhte diese Wirkung durch die Hinzufügung einer Pizzicato-Stimme für die Violen und verwendete eine üppige Bassgruppe mit einer zum Teil solistischem Cembalostimme und Kontrabass. Der so instrumentierte Pachelbel-Kanon wurde wie seine Instrumentierung der
Kunst der Fuge einer seiner größten Erfolge. Die umfassendste Bearbeitung eines Werkes nahm Kurt Redel bei seiner Orchesterfassung einiger der Lieder ohne Worte von Felix Mendelssohn-Bartholdy und des Andantes der Grande Sonate pathétique op.13 von Ludwig van Beethoven vor. Bei dieser vielleicht berühmtesten Sonate Beethovens beschränkt sich das angesprochene Pathos weitgehend auf den Kopfsatz mit seiner neuartigen Grave-Einleitung im Stil der französichen Ouverture. Den 2. Satz bezeichnete der Pianist András Schiff in seinem Gesprächsbuch über Beethovens Klaviersonaten als „Lied ohne Worte; im Mittelteil und seinen polyphonen Weiterungen dann eher kammermusikalisch und mit den Sforzati schließlich gar orchestral timbriert“ – alles Eigenschaften, die auch Kurt Redel so interpretiert haben muss und die diesen Satz zu einer Bearbeitung prädestinieren. Da die Originalbearbeitung verloren ging, erklingt heute Abend eine nach seinen Skizzen rekonstruierte Fassung.
Die Lieder ohne Worte von Felix Mendelssohn-Bartholdy, der bereits zu seinen Lebzeiten sechs Folgen à sechs Nummern herausbrachte, haben die Bearbeiter seit jeher angeregt. Meistens bot es sich an, die ja immanente Oberstimme des „Lieds“ für ein Soloinstrument herauszunehmen. Es gibt frühe Fassungen für Violoncello von Friedrich Grützmacher, für Violine von Ferdinand David, für Oboe, für Klarinette … Den verbleibenden Klavier-Begleitsatz zu einer sinnvollen und wohlklingenden Orchesterpartitur umzugestalten, erfordert schon mehr – auch wenn das Instrumentieren noch 50 Jahre früher zum Handwerkszeug jedes Komponisten gehört hatte, wenn er nicht überhaupt am Klavier komponierte. Redel (selber auch Komponist), versah die „Lieder“ zusätzlich mit publikumswirksamen Titeln wie Confiance, Tristesse de l’âme oder La Plainte du pâtre.