Jerzy Grotowski DAS ARME THEATER

Jerzy Grotowski DAS ARME THEATER

 Jerzy Grotowskis Aufführungen unterlagen einer ständigen Evolution.

Die neu erlangten Erfahrungen verliehen den älteren Arbeiten eine veränderte Gestalt – dies soll heißen das Gesamtbild vervollständigte sich.

Deutlich zu erkennen ist an dieser Stelle das allmähliche los lassen von der Inszenierung zu Gunsten der Arbeit mit dem Schauspieler. Grotowski sieht den Schauspieler nicht als Schauspieler – in erster Linie sieht er den Schauspieler als Mensch und der Mensch steht im Zentrum des kreativen Schaffens.

Auf der Suche nach einer Form eines neuen Theaters wird die räumliche Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer untersucht und schließlich verändert. Besonderes Interesse gilt der Problematik des Mythos sowie des Ritus. Grotowski betreibt auf diesem Gebiet systhematische Forschungen mit dem Ziel, das sein Theater „eine Art Forschungsstätte für Religionskunde“ wurde.

Der Inszenator beschreibt seine Vision über die Entstehung eines „armen Theaters“:
„Unsere ganze Aufmerksamkeit und alle Formen unserer Tätigkeit galten nun vor allem der Kunst des Schauspielers. Nachdem wir die Idee eines bewussten Manipulierens mit dem Zuschauer verworfen hatten, verzichtete ich fast sofort auf das Inszenieren, und in der Konsequenz begann ich – was logisch erscheint – , die Möglichkeiten des Schauspielers als eines Schöpfers zu erforschen…Es tauchte also das Problem des Schauspielers auf.“

Die >>Akropolis<< nach Wyspianski war der erste wirkliche Schritt in Richtung „armes Theater“.

Die Handlung des Dramas von Wyspianski auf dem Wawel, der für die Polen dasselbe ist wie die Akropolis in Athen für Europa.“ (Ludwik Flaszen)

Das arme Theater basiert auf dem Prinzip einer strengen Selbstgenügsamtkeit.

Das oberste Gebot hieß: Nichts in die Handlung aufnehmen, was es nicht von Anfang an darin gab. Es gibt Menschen und eine Anzahl im Saal zusammengetragener Gegenstände. Und dieser Werkstoff muß für alle in der Aufführung gezeigten Umstände und Situationen, für Plastik und Klang, für Zeit und Raum ausreichen…>>Armes Theater<< bedeutet, mit Hilfe von möglichst wenigen Elementen durch deren magische Verwandlung, durch ein >>Mehrfunktionenspiel<< ein Maximum an Effekten zu erreichen, mit Hilfe dessen, was in Reichweite liegt, ganze Welten zu schaffen.“

Ludwik Flaszen beschriebt die Handlung und den Leitfaden, die Idee hinter der Inszenierung Grotowskis wie folgt: „Während der Resurrektionsnacht entsteigen den Bildteppichen Gestalten, um große Mythen, antike und biblische Motive darzustellen (den Trojanischen Krieg, Paris und Helena, den Kampf Jakobs mit dem Engel, Jakob und Esau, die Auferstehung). In der >>Akropolis<< erblickt der Inszenator den Friedhof der europäischen und der nationalen Zivilisation, die Summe ihrer Inspiration und Motive. Und dieser Friedhof wird mit dem Friedhof der Völker und der europäischen Kultur unseres Jahrhunderts konfrontiert – mit der Summe der >>Zivilisation der Krematorien<<, mit der Wirklichkeit der Vernichtungslager.“

Die Idee für eine solche Inszenierung stammt von Niemandem Geringeren als dem „großen Inszenator“ persönlich. Seine Anregungen schöpfte er aus Erzählungen des populären Schriftstellers Tadeusz Borowski.

Tadeusz Borowski befand sich in Zeiten des dritten Reichs im Konzentrationslager in Auschwitz. In diesem Falle war nicht der Inszenator derjenige der den Aufbau und die Inszenierung des gesamten Stückes konzipierte. Die gesamte Partitur wurde von den Schauspielern und dem Inszenator konzipiert und erprobt. Das Hauptanliegen Grotowskis: Das Resümee der Zivilisation, ihren Wert im Lichte der zeitgenössischen Erfahrung zu prüfen.

Die Inszenierung stand für die poetische Paraphrase eines Vernichtungslagers – als dieses wurde sie aufgefasst.

Der Aufbau des Stückes, gleicht der Vorstellung eines bösen Traumes, als solches beschreibt es auch Ludwik Flaszen: „In der Aufführung gab es eine andere Wirklichkeit: die auf poetische Weise aus Anspielungen, Kürzeln und Metaphern erreichte Wirklichkeit eines Vernichtungslagers, in der menschliche Wracks – an die Grenze der Erkenntnis getrieben, die uns unser 20.Jahrhundert beschieden hat – althergebrachte Mythen und Motive darstellen.“

Wie bereits bei den vorhergehenden Inszenierungen Grotowskis spielte auch hier die Handlung wieder im gesamten Raum – in mitten der Zuschauer. Betont werden muss, das die Zuschauer nicht zur Teilnahme gezwungen wurden. Die Schauspieler stellten Traumgebilde dar, in dem sie auferstandene Gestalten spielten, die aus dem Rauch der Krematorien empor gestiegen waren. Der direkte Kontakt, das Zusammenspiel zwischen Zuschauer und Schauspieler blieb, genau wie die Verständigung der beiden Parteien aus.

Die Schauspieler verkörpern die Toten, die Zuschauer die Lebenden, auf diese Weise ist die Herstellung eines Kontaktes zwischen den beiden Gruppen schier unmöglich. Flaszen erklärt den Unterschied zweier, völlig unterschiedlicher Welten die auf der Bühne gleichsam bedeutend dargestellt wurden: „Die Welt der in extreme Erfahrungen Eingeweihten und die Welt der Profanen, denen nur die gewöhnliche Praxis des Lebens zugänglich ist, die Welt der Toten, und die Welt der Lebenden. Die physische Nähe vertieft diesmal das Gefühl des Fremdseins. Die Zuschauer, obwohl man ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, werden provokatorisch nicht beachtet. Die Toten erscheinen als seltsame, unbegreifliche Wesen in den Träumen der Lebenden. Und wie in einem Albtraum umringen sie die Schlafenden von allen Seiten. Daß sie in verschiedenen Stellen im Saal auftreten – einzeln oder manchmal alle auf einmal -, soll eine räumliche Unbestimmtheit, eine aufdringliche Allgegenwart suggerieren. Wie in einem bösen Traum.“

Im Vordergrund der Aufführung stand die menschliche Gemeinschaft in einer extremen Situation. Es gab keine Helden, die aus der Masse herausstachen, die Schauspieler erschienen als ein im gesamten zueinander gehörendes Gebilde. Im abwechselnden Rhythmus pulsierten sie, sangen und erzeugten Geräusche durch die verschiedensten Gegenstände, die Ihnen zur Verfügung standen.

In der Mitte des Raumes platzierte man eine große Kiste, auf dieser Kiste wurden eiserne Gegenstände wie Ofenrohre, Schubkarren, Hämmer, Nägel und eine Wanne gestapelt. Die Schauspieler, welche die Häftlinge verkörperten, schufen im Laufe der Handlung das Werk einer Zivilisation der Ofenrohre mit Hilfe dieser Gegenstände. Systematisch wurde so nach und nach der gesamte Theatersaal umgebaut. Auf den nackten Körpern trugen die Schauspieler durchlöcherte Säcke, ihre Füße waren durch Holzpantinen bedeckt, die Köpfe mit dunklen Mützen. Die Schauspieler waren kaum zu unterscheiden, Unterscheidungsmerkmale wie Geschlecht, Alter, gesellschaftliche Zugehörigkeit waren nicht erkennbar, undefinierbar.

Dargestellt wurden sklavische, sinnlose und gleichsam absurde Tätigkeiten – zu deren Ausübung sie die Lagerzucht gezwungen hatte. Menschliche Wracks, ohne Perspektive auf ein Sein im Reich der Lebenden.

Die Inszenierung endete mit der Auferstehung und der Apothese Christi – „einem Zug der Häftlinge, die – im Triumph einen Toten, für sie den Erlöser, das Symbol der verzweifelt gesuchten Hoffnung tragend – nacheinander im Krematorium verschwanden.“

>>Dr. Faustus<< nach Marlowe war eine wesentliche Schlüsselinszenierung des „Theater Laboratorium der 13 Reihen“.

>>Dr. Faustus<< spielt in einer Atmosphäre der düstersten Gewalt und des Unbekannten. Den Schauspielern auf der Bühne war es gelungen sich der Art in den Stoff hineinzusteigern das sie auf der Bühne ihren vollkommenen Höhepunkt, die absolute Ekstase erreichten.

Betrachtungsweisen der „Schlüsselinszenierung“ des „Theater der 13 Reihen“ durch Michael Kustow: „Die Schauspieler agieren in unserer unmittelbaren Nähe, knapp fünf Meter von uns entfernt. Sie tauchen hinter, neben und zwischen uns auf. Zwei von Ihnen sitzen zusammen mit den Zuschauern auf den Bänken und sprechen derbe, komische Verse des Dramas. Wir werden selbst zu einer zynischen, vulgären Komödie und schneidern uns Faustus nach unserem Maß zurecht. Die Worte werden gesprochen, gesungen, geflüstert. Zu vernehmen sind seltsame Vokalisierungen; christliche Hymnen verbinden sich mit heidnischen Praktiken; Gebete klingen wie Drohungen. Besonders erschütternd ist die Sequenz, in der Banvoglio (Ryszard Cieszlak) wahnsinnig wird, im Saal herumläuft und die direkt vor uns stehenden Tische bis auf das Gerüst auseinanderzunehmen beginnt. Einen Augenblick lang scheint es, das die Welt untergeht. Faustus beruhigt den kaiserlichen Diener, indem er ihn in ein Kind verwandelt, das uns beschämt. In unserem Gedächtnis bleiben Momente voll architektonischer Schönheit haften: Faustus wie ein Schwan nach Rom getragen, einen Meter über unseren Köpfen. >>Ah, Faustus!Du hast nur noch eine Minute zu leben<< – der letzte Monolog des Faustus wird zu einem Akt der Verachtung, der Herausforderung, der Enthüllung des unbändigen Zorns und der Gleichgültigkeit Gottes.

Wir sehen gleichsam einen Peer Gynt, der zu dem Schluß gelangt, daß Gott nicht erhört, oder einen Beckettschen Hamm: >>Le salaud, il n’existe pas.<< >>Fluch über die Väter, die mich gezeugt haben<< – Faustus gerät in Ekstase. Er ist wirklich besessen, ein weltlicher Heiliger, der sich wie ein religiöser Fanatiker verhält.

Faustus stößt einen schrillen Schrei und unmenschliche, unartikulierte Laute aus. Er ist kein Mensch mehr, sondern ein schwitzendes, leidendes, in die Falle gegangenes Tier, brüllend, aller Würde beraubt. Gott zum Trotz ein Heiliger, zeigt er die Grausamkeit dieses Gottes. Er trägt einen moralischen Sieg davon und zahlt dafür den entsprechenden Preis: das Martyrium der ewigen Verdammnis, in der er sogar seiner Würde beraubt wird.“

In seiner Auseinandersetzung mit >>Faustus<< wirft Michael Kustow gleichzeitig eine existentiell bedeutsame Frage auf: „Welche Formen werden Gewalt und Gebet in der nächsten Hälfte unseres Jahrhunderts annehmen?…Das wissen wir nicht, aber so ein Theater wie das von Grotowski wird bestimmt Mittel finden, um ihnen Ausdruck zu verleihen.“

Abschließend ist zu sagen, das dem „Theater der 13 Reihen“ mit >>Faustus<< ein magischer Akt, die totale Ekstase der Wahrhaftigkeit auf der Bühne gelungen ist.

In dieser Epoche war das zustande kommen einer Verständigung unter den Menschen möglich – ein wie in der Urgemeinschaft feierliches und sonderbares Faktum, welches auf die verborgenen, dem Menschen in die Wiege gelegten, Kräfte basierte.

>>Faustus<< brachte dem Inszenator und seiner Gruppe großen Ruhm ein. Die Inszenierung wurde als die hervorragenste experimentelle Darbietung anerkannt. Das „Theater Laboratorium der 13 Reihen“ erhielt eine Einladung diese Inszenierung 1964 im „Theater der Nationen“ und ein Jahr später in Paris aufzuführen.

Die grundlegende Tätigkeit des Theaters ist nicht die einer gewöhnlichen Dienstleistungseinrichtung , sondern der eines Forschungsstudios.“

Das „Theater Laboratorium der 13 Reihen“ ist noch immer auf der Suche nach etwas Neuem, nach der Art und Weise einer Darbietung auf der Bühne, wobei der Schauspieler nicht nur als Meister seines Faches, sondern als Mensch betrachtet werden soll. Grotowski stellt sich einer weiteren, großen Herausforderung. Hierbei unterscheidet sich grundlegend, das die schlussendliche Aufführung nicht den Charakter einer Aufführung, sondern den einer öffentlichen Probe tragen soll.

Dabei spielt das Publikum keine unwesentliche Rolle, die Aufgabe des Publikums ist in diesem Falle nicht die passive Betrachtung des dargebotenen Geschehens auf der Bühne. Das Publikum wird eingeladen an dem Geschehen teilzunehmen – das Publikum soll etwas zu dem Geschehen auf der Bühne beitragen und aktiv daran teilnehmen.

>>Studie über Hamlet<< nach Shakespeare und Wyspianski war eine Ausnahmeerscheinung des „Theater Laboratorium der 13 Reihen“. Es handelte sich hierbei um ein Kollektivwerk. Ludwik Flaszen, der literarische Leiter des Theaters beschreibt das Kollektivwerk des Inszenators mit seinen Schauspielern: „Die grundlegende Richtung suggeriert der Regisseur. Aber nur insofern, als er die Vorstellungskraft der Schauspieler anregt. Die Schauspieler selbst suchen während der Proben nach Lösungen. Sie improvisieren ganze Sachen und regen wiederum die Invention des Regisseurs und ihrer Kollegen an. Solche Arbeit beruht darauf, im Kollektiv das zutage zu fördern, was ausdrucksstark, doch in der Seele des Menschen verborgen ist, und dieses Etwas um den Leitgedanken herum zubauen, der sich stufenweise herauskristallisiert.“

Es handelt sich hierbei um eine „Studie zur schauspielerischen Methode und Kollektivregie“. Das „Theater Laboratorium der 13 Reihen“ lässt eine „eigene Vision der Geschichte des dänischen Kronprinzen, eine Variante zum Thema ausgewählter Shakespearescher Motive, eine Studie des Motivs“ entstehen. Der von Shakespeare geschriebene Text ist der Ausgangspunkt für eine solche Studie, der Kommentar Wyspianskis die begleitende Hilfestellung. Die Präsentation der Erprobten Inszenierung fand in einem leeren Saal statt. Die Zuschauer wurden entlang der Wände platziert.

Die Furcht vor dem eigenen Körper

Die >>Studie über Hamlet<< gehörte zu den wichtigsten Experimenten des „Theater Laboratorium der 13 Reihen“ . In erster Linie, diente dieses Stück der Vorbereitungen für die darauf folgenden Inszenierungen von >>der standhafte Prinz<< und >>Apocalypsis cum Figuris<<, deren Realisierungen ohne die Erkenntnisse der >>Studie über Hamlet<< schier nicht möglich gewesen wären. Dem „Theater Laboratorium der 13 Reihen“ gelang mit dieser Inszenierung der kollektive „totale Akt“ sowie die weitgehende „Enttheatralisierung“. Es ist festzustellen, das es sich hierbei um den ersten Versuch des totalen kollektiven Akts handelt. Dieser Versuch bildet den Grundstock für die spätere experimentelle Arbeit des Theaters. Auch wenn dieser Versuch nicht hundertprozentig gelingen konnte, weil der vorgegebene Stoff die Verwirklichung dieses Versuches nicht im vollen Umfange zu lies, war er doch entscheident für die Richtung des Theaters in den zukünftigen Schaffensperioden. Eine Offenbarung für den Inszenator und seine Schauspieler.

Der Inszenator stellt fest:

Besonderes Gewicht wird in unserem Theater dem schauspielerischen Training und der Untersuchung der dieses Handwerk regierenden Gesetze beigemessen. Außer Proben und Aufführungen haben die Schauspieler täglich zwei bis drei Stunden Training…Das erinnert auch etwas an Forschungsarbeit. Wir versuchen, bestimmte objektive Gesetze aufzudecken,die die Expression des Menschen regieren. Den Ausgangspunkt dazu bieten die schon erarbeiteten Systeme der Schauspielkunst wie die Methoden Stanislawskis, Meyerholds, und Dullins sowie die besonderen Trainingssysteme des klassischen chinesischen und japanischen Theaters oder des indischen Tanzdramas und schließlich die Experimente der großen europäischen Mimen (z.B. Marceau) der Praktiker und Theoretiker der Ausdruckskunst und die Untersuchungen von Psychologen (Jung und Pawlow), die sich mit dem Mechanismus der menschlichen Reaktion befaßt haben. Ohne Übertreibung kann man sagen, das jede Premiere des Laboratorium mit schwer, fast >>sklavischer<< Arbeit der achtköpfigen Schauspielergruppe bezahlt wird.“

Grundlegend ist festzustellen, das die Arbeit nach dem Streben zur technischen Perfektion und Vielaspektigkeit gekennzeichnet war. Grotowski definiert das neue Hauptziel für die zukünftige Schaffensperiode des Theaters: „Es ginge bei den Übungen vor allem darum, das der Körper dem Schauspieler keinen Widerstand leiste. Solange sich der Schauspieler des eigenen Körpers bewußt ist, ist er eines Entblößungsaktes nicht fähig… Der Körper muß seine Wiederstandskraft restlos verlieren; praktisch müßte er in gewissem Sinne zu bestehen aufhören.“

Der Körper wird hierbei nicht als Werkzeug angesehen. Viel mehr geht es darum ein breites Spektrum verschiedener Elemente zu einem Gesamten zu vereinen, sie ins extreme zu führen. Das Hauptziel ist es, das Streben nach den „ästhetischen Körper“ zu überwinden, wie er eine wesentliche Rolle im Ballett oder der Pantomime spielt. Die primäre Aufgabe ist eine vollkommene Überwindung des dressierten Körpers, der technische Gewandheit und Leistungsfähigkeit erlangt. Es gilt: Den totalen Akt auf dem Gebiet der Übungen zu erreichen.

Dem Schauspieler muss es gelingen, eine besondere Art von Sensibilität herauszubilden, um die Prozesse, die sich in seinem Oraganismus abspielen verstehen und deuten zu können. Die Reihenfolge und das Tempo der Übungen wurden durch diesen Prozess vorgegeben. In gewisser Weise handelt es sich bei dieser Arbeit um das Training der Persönlichkeit durch organische Maßnahmen. An dieser Stelle muss nochmals betont werden, das es primär auf den „totalen Akt“ in den Übungen ankommt. Wir stellen uns die Frage „Wer übt eigentlich“? Die Antwort auf diese Frage ist simpel: „Es übt nicht der Schauspieler als Schauspieler, sondern der Schauspieler als Mensch, als menschliches Wesen.“

Grotowski sagt:

Ein Fehler ist es zu glauben, daß es irgendeine Vorbereitung, irgendein Auftakt zum Schaffen, zum Akt geben kann und daß das auf irgendein Training beruht. Kein Training kann sich in einen Akt verwandeln. Ich spreche nicht von der Improvisation als >>Training<<, das ist eine ganz andere Sache.Ich spreche von einer Art Übung, von einer gleichsam schöpferischen Gymnastik. Übungen haben überhaupt keinen Sinn, wenn sich dabei nicht – sozusagen mit Vorsprung – das einzig Wesentliche, d.h. Die Tat, der Akt des Menschen, vollzieht… Als wir uns noch mit dem Theater, der Schauspielerarbeit als Beruf usw. befaßten, erkannten wir, daß Übungen irgendwo am Rande des Experiments, bei dem sozusagen etwas in Leben gerufen wird, und in der Zeit nach diesem Vollbringen einer echten, menschlichen Tat einen Sinn haben können.

Beim Experimentieren war zu beobachten, daß die auftretenden Schwierigkeiten und Hemmungen bei jedem von uns unterschiedlich waren. Die Übungen waren nützlich, wenn jeder jene Übungselemente trainieren konnte, die ihm notwendig waren, die Ergebnisse der Übungen sahen jedoch in jedem Falle anders aus, weil jeder auf andere Hindernisse stieß. Manche waren bei verschiedenen Menschen ähnlich, z.B. das mangelnde Vertrauen in den eigenen Körper.

Es ist unmöglich, sich durch Gymnastik oder Beobachtung und durch eine bewußte Kontrolle darüber klar zu werden. Wenn wir aber eine akrobatische Figur im Raum ausgeführt haben, zu der wir gewöhnlich nicht fähig sind, die uns unmöglich vorkommt, gewinnen wir ein wenig Vertrauen in den eigenen Körper, zu uns selbst.

Wie ist solche Figur zu vollbringen? In den Jahren, als wir uns damit beschäftigten, waren wir bemüht, alle einleitenden Erläuterungen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Der Instrukteur half dem Übenden in dem Maße, wie es unbedingt notwendig war, damit jener überhaupt eine Chance hatte. Zu dieser Figur finden, dieses Unmögliche vollbringen – das sollte der Übende irgendwie allein, auf seine Weise, auf eigenes Risiko tun.

Nur dann war es für ihn nützlich. Es galt, etwas Unbekanntes zu vollbringen, und das Geheimnis wurde von der Natur des handelnden Menschen selbst entdeckt. Dann kam es vor, daß die Furcht vor dem eigenen Körper verschwand. Wenn einer von uns viele Male eine Bewegung oder Figur geübt, ihr Geheimnis sozusagen restlos ergründet hatte und wußte, wie sie zu machen sei,wenn er sie >>konnte<<, und wenn es kein Risiko, kein notwendiges Mobilisieren, kein unbewußtes Anpassen der ganzen Natur mehr gab, dann führte er sie gleichsam richtig, genau aus, aber wieder als ein in Bewußtsein und Körper geteiltes Wesen. Er war mit seinem Körper nicht mehr eins, er war irgendwie von ihm getrennt, abgespalten. Er konnte mit sich selbst geschickt umgehen, und das war alles. Dabei improvisierte er nicht mehr, er tat nichts auf eigene Weise und jedesmal anders. Denn nicht das Bewußtsein des eigenen Körpers ist es, was der Mensch braucht, sondern das Bewußtsein, nicht vom eigenen Körper abgespalten zu sein. Es ist nicht erforderlich zu wissen, wie etwas zu machen ist, sondern nicht zu zögern angesichts der Herausforderung, wenn es etwas Unbekanntes zu leisten gilt, und dies zu vollbringen, das >>wie<< (soweit es möglich ist) der eigenen Natur überlassend. Das worüber ich spreche, ist besonders wichtig, wenn man meinem Buch, dem den Übungen gewidmeten Teil, bestimmte Elementgruppen entnimmt; denn diese Zusammenstellungen von Elementen waren als Teste gedacht und wirkten keine Wunder. Immer waren sie sehr relativ. Sie hatten einen Sinn, den sie zwangen dem, was man machte, eine Disziplin auf und erforderten Präzision. Aber Disziplin und Präzision entbehrten – auch bei unseren Experimenten in jenen Jahren – jeglichen Sinnes, wenn ihr Fundament nicht die Spontanität der Menschen war.

Das bedeute, daß die Präzision der Elemente bewahrt werden mußte, wobei sie vom Schauspieler jedesmal auf eigene Weise neu gestaltet wurden. All das entdeckten wir gleichsam am Rande anderer Experimente – die ihr hier gerne >>schöpferisch<< nennt – parallel dazu oder danach.

Die Übungen als Vorbereitungsmaßnahmen zum Akt konnten und können weiterhin keinen Sinn haben.“ – so der Inszenator.

Kudlinski beschreibt die Inszenierung und dessen Wirkung auf den Betrachter wie folgt:

Im allgemeinen scheint diese Aufführung konsequenter und geschlossener zu sein als die anderen. Sie überrascht durch die Frische der Einfälle. Dazu gehören die schauspielerischen Ideen, die am deutlichsten den neuen, sich herausbildenden Stil kennzeichnen…Man kann bereits von einem Stil des Theater der 13 Reihen sprechen…“

Mit seiner Inszenierung war Jerzy Grotowski ein wesentlicher Schritt in die Richtung eines neuen Theaters, mit einem eigenen, deutlich zu erkennendem Stil gelungen.