Der Dirigent Kurt Redel

Kurt Redel „Der Dirigent als Interpret bestimmt Tempo und Form, sorgt für die richtige Dynamik, Klangbalance und Kontraste, hilft wenn nötig mit Einsätzen und versucht über die Schlagtechnik hinaus, so gut er kann, durch Charisma, Suggestion, Hypnose, Faszination, Rausch, Magie mit seiner Interpretation eine Atmosphäre und Spannung zu schaffen, die zugleich Musiker und Zuhörer fesselt. Diese geheimnisvolle Fähigkeit hat nicht jeder, und man kann sie wohl weder lehren noch lernen.

Aber vielleicht schlummert sie in dem einen oder anderen noch unerkannt und wartet darauf, geweckt zu werden.“ Mit diesem Schlusswort seines 2002 verfassten Buches Taktschlagen oder Dirigieren ist eigentlich die Person Kurt Redels schon vollendet eingefangen, dessen musikalischer Werdegang bereits so vielfältig begonnen hatte. 1918 in Breslau (heute Wroclaw) geboren, studierte Redel an der dortigen Musikhochschule Flöte („eigentlich wollte ich Klarinette spielen…“), Geige (das erste Instrument seiner Kindheit), Klavier, Komposition und Dirigieren. Nach seinem Abschluss gewann er 1938 gegen die fast unschlagbare französische Konkurrenz einen 2. Preis des Internationalen Wettbewerbs für Holzbläser in Wien und nahm auf Anraten seines Lehrers Ernst Tschirner eine Stelle als Soloflötist in der Landeskapelle Meiningen an. Redel spielte wie damals in Deutschland noch üblich eine HolzBöhmflöte, an die er sich auch nicht nur ungern erinnerte: „Es war eine sogenannte Trillerklappenflöte, die ganz tolle Möglichkeiten auch für Terz-, Quart- und Quintentriller bot, aber in puncto Intonation bedeutende Mängel hatte…

Ich halte für möglich, dass sich die Holzflöte der Oboe und der Klarinette leichter anschmiegt als die Silberflöte.“ Es ging schnell voran. Durch Vermittlung von Elly Ney, die von seinen Flötensoli begeistert war, erhielt Redel eine Stelle als Dozent und Flötist am Mozarteumsorchester. In Salzburg lernte er auch das Ehepaar Irmgard und Konrad Lechner kennen, als Cembalistin und Gambist Vorreiter der Wiederentdeckung der Alten Musik, die seinen musikalischen Horizont nachhaltig erweiterten und mit denen er später, zusammen mit dem Oboisten Helmut Winschermann, das Collegium Pro Arte gründete, einen ersten Vorläufer des berühmten Orchesters. Clemens Krauss, Dirigent des Münchner Opernorchesters, der ihn für eine Stelle als 3. Flötist zunächst nicht gewinnen konnte („die schönen Soli spielt dann immer ein anderer…“), bot ihm 1940 ohne Probespiel (!) die Solostelle an und erhöhte sogar das Honorar, denn Redel wollte seine langjährige Freundin Erika Seidler heiraten.

In München spielte er bereits auf einer modernen Silberflöte, wie sie in Frankreich schon längst üblich war: „Diese Kerle waren instrumental fantastisch gut, technisch und auch klanglich… Woran das lag? Heutzutage ist das nichts Besonderes mehr, aber damals hatte Frankreich einen großen Vorsprung, weil die BöhmFlöte in Paris schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu Hause war, und die bot dem Spieler entscheidend viel mehr Möglichkeiten als die konische Flöte, die viele Deutsche damals noch immer spielten. Deshalb war Clemens Krauss so entzückt, als er mich mit meiner modernen Böhmflöte hörte und holte…“ Als Mitglied der Bayerischen Staatsoper spielte Redel auch unter Richard Strauss, ein weiteres Vorbild für den jungen Musiker, der seinen Wunsch zu dirigieren nur zurückgestellt hatte. Das Nationaltheater wurde 1943 zerstört, die Musiker mussten nach und nach zur Wehrmacht, aber er hatte Glück und konnte nach einem Jahr als Funker wieder seinen Dienst im erhalten gebliebenen Prinzregententheater antreten.

Das Ehepaar hatte inzwischen zwei kleine Kinder, die Wohnung war mitsamt der ersten Flötensammlung und Bibliothek ausgebrannt, in der Not geigte man auch einmal Ave Marias und das Largo von Händel gegen Zigaretten – da erschien das Angebot unwiderstehlich, an der neugegründeten Musik-Akademie in Detmold die Flöten-Professur zu übernehmen. Es wurde eine künstlerisch produktive Zeit, Detmold war mit seinen Bläserklassen die „fortschrittlichste Schule in Europa“ und das Unterrichten faszinierte den jungen Professor, „weil ich mir dabei Klarheit verschaffen musste über die Dinge, die ich vorher eigentlich mehr intuitiv und unbewußt gemacht hatte.“ Gleichzeitig unterrichtete er bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in DarmstadtKranichstein, hier bot sich ihm die Gelegenheit, bei Uraufführungen international bekannter moderner Komponisten mitzuwirken, was in den Kriegsjahren kaum stattgefunden hatte. 1948 bewarb er sich beim Interpretationswettbewerb in Genf; auch diesmal hatten die französischen Kandidaten die besseren Karten, da in der Jury ausschließlich Repräsentanten der französischen Schule saßen.

Jahre später erfuhr Redel von dem Beisitzer Dr. Kornauth, wie es bei der Preisverteilung zugegangen war: „…aber nachdem Sie im letzten Durchgang Ihr Mozartkonzert gespielt hatten, ist Ernst Ansermet aufgestanden, hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gerufen: Was soll das hier mit der deutschen oder französischen Schule! Wenn einer so Mozart spielt, ist das für mich absolut preiswürdig! … Schließlich einigte man sich und bestimmte: 1. Preis = Nicolet und zwei 2. Preise = Redel und Lardé.“ Inzwischen fühlte sich Redel längst keiner der beiden Schulen mehr verpflichtet, er sah im Vibrato schon damals anders als die meisten Kollegen eine Bereicherung, aber als bewusstes, erlern- und kontrollierbares Ausdrucksmittel, der virtuose Zungenstoss der Franzosen war für ihn selbstverständlich.

Das neugegründete Ensemble Collegium Pro Arte (mit Martin Bochmann am Cello) war eines der ersten Ensembles, das nach dem Krieg in Frankreich auftreten durfte, und Redel lernte bei einem dieser Auftritte Sarah Anne Erlihmann kennen, die bald darauf seine zweite Frau werden sollte. Sie konnte ihm gute Kontakte in Frankreich vermitteln, in Paris entstanden auch die ersten Schallplattenaufnahmen.

Als er 1953 von Eugen Jochum als Soloflötist für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks engagiert wurde, kam er zurück nach München in eine inzwischen blühende Musikstadt, er spielte unter Komponisten von Weltruf wie Igor Strawinsky oder Pierre Boulez und hatte endlich die Position, um seinen langgehegten Traum verwirklichen zu können: Kurt Redel rief das Kammerorchester Pro Arte München ins Leben. Das Pro Arte Orchester Das Orchester setzte sich aus einer handverlesenen Auswahl an Musikern zusammen, darunter waren viele aus den bekannten Münchner Orchestern (insbesondere aus dem Staatstheater am Gärtnerplatz), aber auch einige versierte Laienmusiker. Zu einer möglichst konstanten Rumpfbesetzung als Kammerorchester traten projektweise auch Bläser und Solisten dazu. Natürlich nutzte Redel seinen inzwischen internationalen Ruf als exzeptioneller Flötist, um das Ensemble bekannt zu machen. „Redel macht mit seinem Instrument so reine Musik, dass man fast geneigt ist, die Meisterschaft delikatester Tonbildung, der Phrasierung, einer geradezu preziösen Nonchalance der Virtuosität zu überhören…“, hieß es zum Beispiel noch 1970 in der Münchner Abendzeitung über sein Mozart-Konzert unter Sir John Barbirolli. Aber in erster Linie ging es ihm um die Verwirklichung seiner musikalischen Vorstellung musikalischer Werke über sein Instrument hinaus. Auch wenn er mit den damals bekannten Traktaten zur Aufführungspraxis von Johann Joachim Quantz oder Leopold Mozart vertraut war, sah er sich völlig selbstverständlich berechtigt, bestehende Musik für seine Zwecke zu bearbeiten: „Es geht nicht um Treue gegenüber dem historischen oder zeitgenössischen Primarschöpfer, denn das Werk ist meist klüger, reicher als es im Bewußtsein des Primarschöpfers war. Voraussetzungen soziologischer, kultureller, geistesgeschichtlicher, ästhetischer Art strömen nachher ein, deren sich der Primarschöpfer nicht bewußt war“, so drückte Redel es in einem Vortrag im Rotary Club einmal aus.

Tatsächlich gelang ihm der Durchbruch mit einer Instrumentierung der Kunst der Fuge von J.S. Bach für großes Orchester, einem Auftragswerk von Serge Moreux, dem künstlerischen Leiter der Plattenfirma Ducretet-Thompson. „Machen Sie mir die Kunst der Fuge und ich engagiere Sie für das Festival de Royaumont, finanziere Ihre ersten Konzerte in Paris und biete Ihnen einen Schallplattenvertrag mit drei Platten pro Jahr“ – ein sensationelles Angebot. Den Cembalo-Part übernahm Karl Richter, die Aufnahme gelang und erhielt prompt den Grand Prix du Disque. Aus den französischen Engagements entwickelte sich nach und nach eine umfassende Konzerttätigkeit, als nächstes Großprojekt nahm Redel die Passionsmusiken von Georg Philipp Telemann in Angriff, die in den fünfziger Jahren gänzlich unbekannt waren. Eine im heutigen Sinne quellenkritische Arbeit war damals noch kaum möglich und lag nicht vorrangig in seiner Absicht. Sso entstand (immer noch in jahrelanger Arbeit) Aufführungsmaterial, das auch seinen persönlichen Geschmack widerspiegelte. „Redel hat für Telemann das getan, was hundertvierzig Jahre zuvor Mendelssohn für die Matthäuspassion von J.S. Bach geleistet hat!“, rief Igor Markevitch bei der Premiere 1965 in Luzern mit dem Schweizer Festspielorchester enthusiastisch aus, die Markuspassion wurde bereits 1962 in Vevey von dem Pro Arte Orchester aufgeführt und eingespielt. 1968 gründete Redel die Osterfestspiele von Lourdes, die er 20 Jahre auch leitete, und kreierte zur gleichen Zeit Les Nuits Musicales in Châteauneuf-du-Pâpe mit Konzerten bei Kerzenlicht.

Als er 1974 krankheitsbedingt seine Stelle im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aufgeben musste, begann für das Orchester eine große Zeit, außer bei den „eigenen“ war das Orchester regelmäßig zu Gast bei zahlreichen Festivals (unter anderem in Bordeaux, Aix-en-Provence, Montreux, Luzern, Prades, Athen…). Es folgten Tourneen durch ganz Europa, in den Libanon, nach Ägypten, Marokko und der Türkei, nach Südamerika und durch ganz Asien. Das Orchester erhielt phänomenale Kritiken („L’orchestre PRO ARTE de Munich est un des meilleurs qui soient“ hieß es in Arts) und zahlreiche Plattenaufnahmen dokumentieren sein breitgefächertes Repertoire:

Ein Schwerpunkt blieb die Barockmusik mit Werken von Antonio Vivaldi, J.S. Bach, Georg Philipp Telemann und Georg Friedrich Händel sowie klassische Werke vornehmlich in Kammerorchester-Besetzung von Joseph Haydn und W. A. Mozart, aber das Pro Arte Orchester spielte auch Raritäten ein wie Musik von Friedrich II oder Konzerte von Gottfried Heinrich Stölzel, Christoph Graupner oder Johann Georg Pisendel bis hin zu Ave MariaKompositionen von J. S. Bach bis César Franck. Kurt Redel wurde wie nebenbei vor allem in Japan und Südamerika ein erfolgreicher und gefeierter Dirigent, er leitete viele der großen Orchester Europas und begleitete weltberühmte Solisten wie Jehudi Menuhin, Henryk Schering, Marta Argerich, Jessye Norman oder Herrmann Prey. Er betreute zahlreiche begehrte Dirigierkurse in ganz Europa, Japan, Südamerika und erhielt viele Ehrungen. Leider endete damit in den 80-er Jahren die glorreiche Ära des Pro Arte Orchesters.

Seine über 150 Plattenaufnahmen gewannen regelmäßig Preise. Viele zeitgenössische Komponisten haben Kurt Redel Werke gewidmet, unter anderem Günter Bialas, Hans Werner Henze, Luigi Nono, die er oft auch uraufführte. 2005 erschien sein Buch Taktschlagen oder Dirigieren, eine grundlegende Anleitung für angehende Dirigenten, in dem er seine einzigartige Erfahrung als professioneller ausübender Musiker und Dirigent zusammenfasste. Er starb 2013 nach längerer Krankheit in München, fast zeitgleich mit seiner Frau Anne. Den gesamten Nachlass hinterließ er einer Stiftung, die seinen Namen trägt. Die umfängliche zweite Flötensammlung Kurt Redels ist in der Hochschule für Musik und Theater München zu sehen.