Khôra

Geheimnisvoll liegt der Ort allen Werdens. Ungreifbar birgt er jenen Urzustand, in dem alles Kommende bereits als Idee angelegt, das sich Manifestierende indes noch unsichtbar, kaum erahnbar ist. Platon reflektierte über diesen ideellen Raum, als er über die Entstehung des Kosmos nachdachte. Den Ort, dem schließlich die Elemente – Erde, Feuer, Wasser, Luft und Äther – entspringen, nannte er Khôra. In der Khôra sind sie anfänglich als Spuren enthalten, in einem ursprünglichen Chaos, das sich erst nach und nach zu ordnen beginnt. Der Prozess der Schöpfung hat eingesetzt. Nadine Linnings neues Stück ist eine Reise an jenen Ursprungsort. Die Reise zum Ausgangspunkt der Schöpfung wird dabei auch zu einer Reise zum Urzustand der eigenen künstlerischen Kreation – ein Forschen in einem Zustand kreativen Potenzials, das nach Entfaltung und Offenbarwerdung strebt. Im Anfang ist die Inspiration – eine schöpferische Energie, die nach kreativer Entladung sucht. Die Entstehung von Linnings Stücken besteht niemals im Füllen einer tradierten Form, weniger noch in einer Neuinterpretation bestehenden Materials. Es sind immer Neuschöpfungen, Gesamtkunstwerke, die in einer intensiven intuitiven Reise durch ein Material und im befruchtenden Dialog mit weltweit wirkenden Künstlern verschiedenster Disziplinen zum Leben erwachen. Dabei verbleiben sie in einem Zustand beständigen Wandels, sie bleiben in Resonanz mit der Zeit, an der sie partizipieren und dem Publikum, für das sie geschaffen wurden, lebendig
Dieser künstlerische Zustand der Khôra und deren Entfaltung ist 5 ein schützenswertes Reservoir, naturgemäß bedroht von organisatorischen Zwängen und Produktionsmaschinerien. Mit Khôra wagt Nadine Linning beides – die Thematisierung eines intuitivorganischen Schöpfungsprozesses und die Umsetzung desselben in der praktischen Entwicklung des Stückes selbst – Khôra als ein metafiktionales Werk, das seine eigene Entstehung künstlerisch reflektiert.
Zu den stark assoziativen Klängen der Musik Michiel Jansens diffundieren Tänzer durch den scheinbar liquiden Bühnenraum, tauchen auf, verbinden sich spielend mit dem Bühnenbild und verschwinden wieder wie von Zauberhand. Hypnotisierende Projektionen des Designers Bart Hess ziehen den Zuschauer unweigerlich tief hinein in das Geschehen. Leuchtend rote Kostüme kreieren ihren eigenen Sound, enthüllen sich als essbar. Gemeinsam mit dem Tänzer schmeckt das Publikum ungewöhnlich-fremdartige Kostproben und inkorporiert damit gleichsam die gegenwärtige Szene. Auf etwas Geheimnisvolles, schwer Eruierbares referierende Düfte eröffnen einen dreidimensionalen Raum um den Zuschauer, der sich damit ins unmittelbare Zentrum des Aufführungsgeschehens versetzt sieht. Göttern gleich erscheinen die hängenden Tänzer, den eigens für das Stück komponierten Sekt Ambrosia-gleich dem Zuschauer reichend, der eingeladen ist, die magische Schwelle zur Bühne und damit die Grenze zwischen Künstler und Publikum endgültig zu überschreiten. Mit Khôra entwickelt Nadine Linning ihre Vision einer interaktiven Performance, die den Zuschauer mit allen Sinnen einnimmt, einen großen Schritt weiter. Das narrative Erzählen endgültig verlassend, wendet sich Linning verstärkt einer Darstellungsweise zu, die unmittelbar sinnlich erfahren und zutiefst intuitiv erfasst werden will. Das Verstehen, die Katharsis erfolgen auf eine emotionale, assoziative Weise so der Zuschauer offen dafür ist, sich in diese Erfahrung hineinzugeben und dieser Rezeptionsweise zu vertrauen. Khôra setzt damit einen Kontrapunkt zu einer stark auf rationale Erkenntnis ausgerichteten gesellschaftlichen Entwicklung. Indem es die sinnliche Wahrnehmung und intuitive, archaische Erkenntnismuster anspricht, ruft es Erinnerungen an ursprüngliche, zutiefst menschliche Fähigkeiten wach, die es wert sind, nicht einer Stigmatisierung als wertlos und überwindbar preisgegeben zu werden.
Mit Khôra fügt Nadine Linning Ihrem Oeuvre ein weiteres interdisziplinäres Kunstwerk hinzu, das dem Dialog mit den verschiedenen involvierten Künstlern eine neue Intensität und Gewichtung verleiht. Angestoßen von einem Initiationsimpuls durchläuft der künstlerische Prozess eine Reise, deren Verlauf die beteiligten Weggefährten maßgeblich mitlenken. Dabei wächst ihre Funktion weit über die eines bloßen Auftragskünstlers hinaus. Grundvoraussetzung ist immer ein tiefes Empathievermögen, sich in die Vision Nadine Linnings hineinzuversetzen sowie die Neugier und der Mut, Unbekanntes zu entdecken und unkonventionelle Wege zu beschreiten. Alle beteiligten Künstler eint überdies eins die Fähigkeit, sich in das Ungewisse, noch nicht Sichtbare – eben jenen Zustand der Khôra – hineingeben zu können, in dem tiefen Vertrauen, dass am Ende dieser Reise eine neue ästhetische Welt zum Leben erweckt sein wird. Im Prozess von Khôra war es der Food Designer Remco Vellinga, mit dem zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Stückes die Idee entstand, den im Theater für gewöhnlich angesprochenen Sinne des Sehens und Hörens, die des Riechens und Schmeckens hinzuzufügen, um dem Zuschauer eine ganzheitliche Illusion ermöglichen zu können. Inspiriert von der Idee Hippokrates’, die fünf Sinne den fünf Elementen zuzuordnen, führte die Forschungsreise zur Naturphilosophie Platons und der darin enthaltenen Idee von der Entstehung der Elemente. Der Bühnenort Khôra war geboren.
Sho Takayama Photo by Annemone Taake