Wer Ohren hat, schließe die Augen und tauche

Wer Ohren hat, schließe die Augen und tauche

Festival europäische Kirchenmusik | Schwäbisch Gmünd: EKM-Preis 2017 an den Komponisten Wolfgang Rihm im Preisträgerkonzert mit grandioser doppelchöriger Besetzung vergeben.

(15. Juli 2017 | Schwäbisch Gmünd) „Für einen Künstler ist Inspiration nichts Besonderes, denn davon geht er ja aus. Das hat er ja. Das ist ja das Einzige, was er hat. Es geht immer nur darum, die Inspiration in die Tat umzusetzen.“, so der Komponist Wolfgang Rihm in einem Interview. Die wohl größten Inspirationsquellen – eine Art konzeptioneller Dreiklang – scheinen für Rihm Geschichte, Gegenwart und Realität zu sein. In unverwechselbarer Manier vermag er es, diese Aspekte in die Musik zu transponieren. Sie als solche zwar als Themen stehen zu lassen und sie doch durch seine Komposition in eine andere „Tonlage“, in neue Harmonie, meist voller Dissonanzen zu setzen. Dem ehemaligen Schüler von Karlheinz Stockhausen gelingt es so, zeitgenössische Musik zu schaffen, welche auch das Unsagbare zu sagen vermag. Zu Recht erhielt daher Wolfgang Rihm, wie bereits u.a. Arvo Pärt oder Krzysztof Penderecki, den mit 5.000 Euro dotierten Europäischen Kirchenmusik Preis 2017 der Stadt Schwäbisch Gmünd.

Mit förmlich apodiktischen im Kirchenraum aus vier verschiedenen Richtungen auf die Zuhörer niederhagelnden Paukenhieben ließ Rihm mit seiner Komposition „Memoria – Gedächtnis, Gedenken“, dem Eröffnungsstück des Preisträgerkonzertes, die Assoziationen an einen Kriegsschauplatz entstehen. Explosionsartig und lautstark erinnerte er damit an die Schrecken des Holocaust und das Leid von Millionen Menschen unter der braunen Spalierpest – der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Mit zwei vertonten Gedichten aus dem Band „Fahrt ins Staublose“ der Schriftstellerin Nelly Sachs, stellt Rihm stellvertretend thematisch ein Schicksal ins Zentrum seiner Komposition. Der Nobelpreisträgerin für Literatur gelang im Mai 1940 in letzter Minute die Flucht nach Schweden vor dem Abtransport in das Konzentrationslager Auschwitz. Die sauber und eindringlich grandios gesungenen komplexen Tonfolgen der Altistin Annette Merket schienen begleitet vom Chor die Holocaustüberlebende Nelly Sachs fast schon gegenwärtig werden zu lassen und zeitgleich die Themen Krieg, Flucht und Vertreibung ins Heute zu überführen.

Rihms „Memoria“ bleibt somit nicht beim Gedenken stehen, sondern schafft einen Gegenwartsbezug, welchen wir in den täglichen Nachrichten u.a. aus Aleppo und Kobane wiederfinden. Beeindruckt von der Gewalt der Komposition und unter fast schon physischer Belastung, applaudierte das Publikum nach dem Verhall der letzten Note des ersten Stückes.

Im folgenden Kyrie d-Moll von Wolfgang Amadeus Mozart zog sich in den Klangfarben des Südwestdeutschen Kammerorchester Pforzheims sowie im homophonen Chorsatz das Bitten um Erbarmen angesichts der Gräueltaten in der Welt fort.

Als ob die Organisatoren des Preisträgerkonzertes zwei der Inspirationsquellen Rihms, Geschichte und Gegenwart, in einem Programm vereinen wollten, kombinierten sie seine kompositorische Progressivität mit den wohlwollenden Klang- und Harmoniestrukturen Mozarts und im weiteren Verlauf Johann Sebastian Bachs. Das programmatische Leitthema blieb dabei Wolfgang Rihm als Komponist selbst, dessen musikalisches Oeuvre wie das Mozarts durch Wien maßgeblich geprägt ist. Gerade im dritten Stück des Preisträgerkonzertes, „Toccata, Fuge und Postludium für Orgel“, waren die Einflüsse der Wiener atonalen Schule sowie der aphoristisch-knapper Stil Anton Weberns auf das Schaffen des Preisträgers herauszuhören. Teil des Orgelwerkes ist eine Examens-Fuge, welche Rihm bereits vierzig Jahre zuvor schrieb und die vielleicht auch als Homage an seinen früheren Lehrer für Musiktheorie und Komposition Eugen Werner Velte verstanden werden könnte.

Von der Wucht der Orgel in die Kirchenbänke gedrückt, gaben sich die Zuhörer den teils atonalen Akkordfolgen des Organisten Andreas Gräsle hin. Der Bezirkskantor und Dozent an der Stuttgarter Musikhochschule für Partiturspiel, überzeugte in Gänze in den teils gebrochenen und virtuos gespielten, lang gehaltenen Polyphonien in Rihms Komposition.

Suchte man im Programm des Preisträgerkonzertes nach einer imminenten Überleitung oder dramaturgischen Weiterführung des Themas der Toccata Rihms zum nachfolgenden Stück, der Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ (BWV 51) von Johann Sebastian Bach, so fiel dies aufgrund der Gegensätzlichkeit beider Kompositionen auf den ersten „Blick“ schwer. Doch genau das Aufeinandertreffen der musikalischen Tradition Bachs und die kirchenmusikalische Tradierung Rihms war das gemeinsame Thema: Geschichte und Gegenwart im stetigen Wandel. So war es auch nicht verwunderlich, dass das Konzert im Heilig-Kreuz-Münster in Schwäbisch Gmünd mit der dritten Kompositionen Rhims, „MAXIMUM EST UNUM“, und als fünftes Stück des Programms endete. Das chorsymphonische Werk „MAXIMUM EST UNUM“ war als intime Reflexion über Gottes Wirken in der heutigen Zeit, das große musikalische Finale, bei welchem sich Rihm Texte des Mystikers und Neuplatonisten Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus) sowie des spätmittelalterlichen Theologen Meister Eckharts,  „granum sinapis“, als Leittext für seine Komposition gekonnt entlieh.

Eindringlich interpretierten die Altistin Annette Markert sowie die Sopranistin Susanna Martin die entliehen Textpassagen Rihms. Dem Südwestdeutschen Kammerchor Tübingen war es als Figuralchor zu verdanken, dass der Bachchor Stuttgart der Wucht des Orchesters standhielt und somit beide als ein Gesamtchor wahrgenommen wurden. Und genau dies schien Peter Lorenz, welcher das Stück mit dem Kammerchor einstudierte, sowie dem Kirchenmusikdirektor Jörg-Hannes Hahn, der die Gesamtleitung übernahm am Herzen gelegen zu haben; die Schaffung der Harmonie in der Dissonanz. Wer Ohren hatte, schloss die Augen und tauchte ein in ein musikalisches Epos unserer Zeit. Wie Transparenzen schienen sich die teils autarken Harmonien in den Alt- und Tenorpartien des oratorienhaften Chorgesangs übereinander zu legen und sich in der „ästhetisieren“ Brachialität des Chores als Schreie der Erde und des Abgrundes widerzuspiegeln. Der Schlussakkord des Preisträgerkonzertes war die Stille – der Moment, in welchem das Resonierende mit den persönlichen Gedanken jeden einzelnen Zuhörers verschmolz und sich zugleich im Heilig-Kreuz-Münster in Schwäbisch Gmünd in tosendem Applaus wieder auflöste.

Text: ZeitBlatt / Andre Biakowski