Raumblüte

Raumblüte

Kerstin Stoll, Milan Mehner, Joachim Weinhold O.T., 2018 Ausschnitt aus dem 3D Rendering

Kerstin Stoll (*1969) setzt in der Ausstellung ›Raumblüte‹ ihre forschend künstlerische Praxis in Bezug zu Arbeiten des austro-amerikanischen Künstler-Architekten Friedrich Kiesler (1890 – 1965). In Kooperation mit der Österreichischen Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien

Kerstin Stolls dialogisch konzipiertes Ausstellungsprojekt gründet sich auf ihr Interesse an dem transdisziplinär forschenden und ganzheitlichen Gestaltungsansatz Friedrich Kieslers, insbesondere den Werkreihen ›Magic Architecture‹ und ›Raumblüte‹. Zwischen 1936 und 1946 entwickelt Kiesler mit ›Magic Architecture‹ eine kulturhistorische Studie zur Genese der Architektur, die die vorbildhafte Funktion von Tierbauten hervorhebt. In dem bisher noch unveröffentlichten, fragmentarischen Typoscript entwirft er ein Panorama, das von prähistorischen Höhlen bis zu funktionalen Wohneinheiten, Ameisenbauten oder Vogelnestern reicht. Dabei berücksichtigt er nicht nur bau- und materialkonstruktive sondern auch soziale Aspekte. Ausgewählte Blätter des Konvoluts ›Magic Architecture‹ werden erstmals in der Ausstellung ›Raumblüte‹ öffentlich präsentiert.

Friedrich Kiesler stellte sich früh gegen zweckrationalistische Prinzipien des Städte- und Wohnungsbaus seiner Zeit.  Ausgehend von ersten Entwürfen für das Theater konzipierte er Ausstellungsräume, die eine völlig neue Wahrnehmung von Kunstwerken ermöglichten. Mit dem Correalismus entwickelte er eine Gestaltungsmethode, deren Grundlage die Wechselbeziehung dreier Einflusssphären: der natürlichen, menschlichen und technischen Umgebung ist.

Friedrich Kiesler: Studie zur Salle de Superstition,1947–49, Negativreproduktion, ca. 23 x 28 cm,© Österreichische Friedrich und Lillian KieslerPrivatstiftung,Wien

Kieslers erweiterter Blick auf Umwelten, die in Beziehungen zu Bauten stehen, überträgt Stoll in ihre Auseinandersetzung mit Macharten und Machbarkeiten. Seit geraumer Zeit untersucht sie Materialeigenschaften und Konstruktionsmöglichkeiten von irdenen Stoffen, die bei Lehmbau und Keramik zum Einsatz kommen. In diesem Zusammenhang wurde sie auf die Töpferwespe aufmerksam, die hochfeste Nester aus Lehm baut. In Stolls Werkserien vermittelt sich das Prozessuale des Forschens und Experimentierens mit der Gestaltung der Interaktion zwischen Dingen, Lebewesen und Umwelt.
Bei Kiesler wie bei Stoll kondensiert diese Denkbewegung im Modell. Doch sind die Modelle sind nicht nur auf die Neubetrachtung von Architekturen festgelegt. Vielmehr zeigen sie als „Welt-Modelle“ neue Wissensformationen auf. Kerstin Stoll beschreibt Modelle als „Speicher /Archiv einer Idee“ und „Vehikel, um Ideen, Dinge aufzuspüren und zu kommunizieren“. Neben dieser assoziativen, experimentellen Auffassung benennt sie eine weitere Qualität des Modells: „Durch Idealisierung, Vereinfachung, Standardisierung, Simulation, Imitation werden komplexe Realitäten im Modell überschaubar gemacht.“

Fundstücke wie Nester der Töpferwespe, Termitenbauten und Amsel- und Webervogelnester bilden Ausgangspunkte für Kerstin Stolls forschende Untersuchungen und experimentelle Über- und Umformungen.  Verlassene Nester von Töpferwespen überzieht Stoll mit Glasuren und unterzieht die Insektenbauten aus Lehm, Gräsern und Sekret einem Glasurbrand. Die eigens von Stoll angefertigten farbig spiegelnden Displays vervielfältigen die Ansichten auf diese kleinen Preziosen. In Zusammenarbeit mit Kerstin Stoll erarbeiten Joachim Weinhold und Milan Mehner vom Institut für Mathematik der Technischen Universität Berlin eine Computeranimation eines Webervogelnestes. In der Ausstellung eröffnet eine VR Brille die Innenansicht dieses Tierbaus. Auf einem langen Tisch präsentiert Stoll ihre neuesten in Serien angelegten keramischen Arbeiten. In Schalen präsentiert sie durch Temperatur, Druck oder Vakuum induzierte Metamorphosen verschiedener anorganischer Mixturen deren Ingredienzien zu neuen ungesehen Formen und farbigen Oberflächen aufblühen. Ein Lehmkuppelbau, den Stoll eigenhändig im Ausstellungsraum errichtet, verbindet die Materialien des traditionellen Lehmbaus mit den konstruktiven Grundelementen, die Richard Buckminster Fuller (1893 – 1983) für seine geodätischen Kuppelbauten nutzte und führt eine weitere Dimension des räumlich, architektonischen Anschauungsmodells ein.

Friedrich Kiesler mit seiner Katze Sing Sing auf dem Metabolism Chart of Correalism, New York 1947 (Foto:Ben Schnall) © Österreichische Friedrich und Lillian KieslerPrivatstiftung, Wien                                                                                                                                                                                                                                  Als ›unnachgiebiger Erforscher des Raumes mit eindeutig innovativem Anspruch‹ erprobte auch Friedrich Kiesler seine Raumentwürfe in großen Modellstudien. Am radikalsten verdichten sich seine Ideen im ›endless house‹, wo Boden, Wand und Decke in organischen Ausformungen ineinander übergehen und mehrere auf Säulen ruhende, eiförmig gerundete Baukörper miteinander zu einem fließenden Raum verbunden wurden. Voraussetzung zur Ausformung der Baukörper war die Abkehr des architektonischen Grundprinzips von Stütze und Last und die Verwendung von elastischen und freiformbaren Materialien. Um aus dem Raster des euklidischen Raums austreten zu können ließ sich Kiesler von Tierbauten inspirieren und nutze neuartige Baustoffe. Im Zusammenhang mit den Arbeiten am ›endless house‹, die Kiesler immer wieder an verschieden großen Modellen weitertrieb, entstand eine Reihe von Zeichnungen mit dem Titel ›Raumblüte‹. Sie beschreiben die Entfaltung des Raumes, der die Vorstellungen eines Außen und Innen sprengt. Diese Serie bildet einen weiteren Bezugspunkt im dialogischen Ausstellungskonzept und wird im Heidelberger Kunstverein erstmals präsentiert.